Thematische Linien durch die Documenta 11 (13): Zeichnerische Arbeiten in der Ausstellung
Traditionell spielen Zeichnungen in Ausstellungen eine untergeordnete Rolle. Das hat auch damit zu tun, dass viele Künstler die Zeichnung nicht systematisch als eigene Kunstform betreiben, sondern eher vorbereitend oder begleitend zu ihrer übrigen Arbeit einsetzen. Dabei ist jedes Mal, wenn eine eigene Zeichnungs-Ausstellung organisiert wurde, betont worden, dass nun diese Kunstform genauso wichtig wie die Malerei, Skulptur oder Fotografie genommen werden müsse. Doch solche Feststellungen blieben meist folgenlos. Diese Beobachtung gilt auch für die documenta. Immerhin gelang es der Kasseler Kunstschau zwei Mal in ihrer Geschichte, die Zeichnung zu einem Schwerpunkt zu machen: 1964 und 1977 gab es zwei viel beachtete Abteilungen zur Zeichenkunst. Ansonsten blieb diese Technik eher unterbelichtet. Dem ersten Anschein nach spielt die Zeichnung in der Documenta 11 ebenfalls nur eine beiläufige Rolle. Doch zwei große Werkkomplexe, die zu den zentralen Arbeiten der Ausstellung gehören, sind zeichnerisch angelegt, auch wenn sie in die Nähe der Malerei reichen. Das ist einmal die Installation mit den über 200 Zeichnungen von Andreas Siekmann im Kulturbahnhof, und das sind zweitens die postkartengroßen Bildserien von Frédéric Bruly Bouabré in der Binding-Brauerei. Bouabré versucht die Welt zu erklären. Er dokumentiert die Bilder und Symbole seines Volkes, bemüht sich um feste Schriftformen für die eigene Sprache und spiegelt die Personen und Ereignisse aus aller Welt, die ihn berühren. Er zeichnet mit Farbstiften nach immer gleichem Schema: Um das eindringlich und naiv gestaltete Motiv sind erläuternde Texte gruppiert. Die Direktheit und Farbigkeit verweisen auf die afrikanische Tradition. Die Bilder selbst scheinen die Art der Zeichnung nicht zu reflektieren. Auch Andreas Siekmann greift zu den Ausdrucksmitteln einer Volkssprache. Er entwickelt eine eigene (allerdings gebrochene) Comic-Sprache, die drastisch zum Thema kommt zur Kritik an der globalen Kapitalismusstruktur und zur Arbeitswelt. Leitmotiv ist für ihn die (leere) blaue Jeans, die zum Symbol für den verlorenen Menschen wird. Siekmanns dynamische Zeichnungen sind komplex angelegt und spielen mit den Mitteln des Mediums. Spontan, drastisch und direkt geht auch Raymond Pettibon vor, dessen Raum im Zwehrenturm am Fridericianum wie eine wilde Collage aus Wandmalerei und Wandzeitung aussieht. Seine Bilder und Texte drehen sich um den 11. September und die Folgen sowie Amerikas Suche nach den Helden. Er bedient sich dabei einer Zeichensprache, die den primitiven Kritzeleien ebenso verwandt sind wie Formen der Comics und der politischen Propaganda. Zur Frage nach der Funktion der Zeichnung führen die Blätter von Louise Bourgeois; doch ihnen ist ebenso etwas Manisches zu eigen wie den Kreidezeichnungen von Joan Jonas (bei Binding). Stift und Kreide werden eingesetzt, um etwas Nicht-Greifbares zu fixieren. Zeugnisse einer künstlerischen Besessenheit (das Schreiben und Zeichnen als Lebensbestätigung) sind auch die Zeichnungen, die von Hanne Darboven raumhoch auf drei Etagen der Rotunde im Fridericianum zu sehen sind. Der Raum von Joelle Tuerlinckx im Fridericianum gilt mit seinen zahllosen Projektionen vielen Besuchern als schwierig. Doch an Hand der Arbeiten kann man gut studieren, wie die Künstlerin um eine Sprache ringt, mit deren Hilfe sie Eindrücke beschreiben und zeichnerisch darstellen kann. Eine der schönsten Zeichnungsfolgen erlebt man in dem Film, der von William Kentridge bei Binding gezeigt wird. Der Südafrikaner Kentridge ist ein Meister der Verwandlung von Motiven. In dem Animationsfilm kombinierte er seine expressionistischen Zeichnungen mit Filmaufnahmen und Schattenspiel-Projektionen. Obwohl der Film mit Schreckensbildern des Krieges endet, ist er zu einem der Publikumslieblinge geworden völlig zu Recht. Von
HNA 30. 8. 2002