Thematische Linien durch die Documenta 11 (Schluss): Die tödlichen Bedrohungen
Gewalt und Tod. Die Schlagzeilen der Zeitungen sind voll davon. Täglich tun sich vor unseren Augen neue Schreckensszenarien auf. Und wenn wir viele der Kriege und Schauplätze von Terror aus den Augen verlieren, hängt das selten damit zusammen, dass die Konflikte befriedet wären. Meistens sind sie nur durch andere verdrängt worden. Wie gehen Künstler damit um? Die einen entwerfen Gegenwelten, beschwören aufmunternde Farben und Formen oder ziehen sich in eine Welt zurück, in der die Kunst sich selbst genügt. Aber andere werden gepackt von den Bildern des Todes, von den Abgründen des menschlichen Lebens; sie versuchen, die Last dieser Schreckensvisionen zu verarbeiten und gleichzeitig andere daran teilhaben zu lassen. Mehrere der zur Documenta 11 eingeladenen Künstler thematisieren die zum Tod führende Gewalt. Die riesigen Bildwände von Fabian Marcaccio in der Binding-Brauerei erscheinen wie ein Schreckenspanorama, das alle tödlichen Kriegs- und Terroraktionen der letzten Zeit spiegelt. Rote Blutspuren überziehen die übermalten Fotowände, und vom Vietnamkrieg bis zur Selbstverbrennung werden viele Todesszenen präsent. Jenseits aller handwerklichen Raffinesse vermittelt diese vielschichtige Arbeit Endzeitstimmung. Die Gemälde von Leon Golub im Fridericianum erzählen fast ebenso drastisch von der tödlichen Bedrohung. Die Bilder zeigen eine Gesellschaft am Rande der Auflösung gefangene und verfolgte Menschen, abgetrennte Köpfe, Jäger und Gejagte. Diese Bilder des Todes versteht jeder. Schwieriger wird es mit den Objekten von Doris Salcedo im selben Raum. Man erblickt zerteilte und ineinander verkeilte Stühle. Es sind Möbelstücke, die zugerichtetet sind und auf denen man nicht mehr sitzen kann. Die Kolumbianerin Salcedo nimmt die Stühle als Stellvertreter, als Symbole für die Menschen, die in ihrem Land terrorisiert und ermordet wurden. So steht jeder Stuhl für mindestens ein Opfer. Daneben gibt es Spuren des Todes, die erst einmal aufgenommen und gelesen werden müssen, bevor sie künstlerisch verschlüsselt werden können. Dazu gehören die Bilder und Tondokumente, die Eyal Sivan zum Völkermord in Ruanda gesammelt hat. Die filmische Projektion, die man im Fridericianum sieht, ist eines der Werke, die mit dokumentarischen Mitteln arbeiten. In der Beziehung beruht die Arbeit auf den gleichen Arbeits- und Untersuchungsmethoden, die die Gruppe Multiplicity eingesetzt hat, um den lange Zeit verschwiegenen Untergang eines Flüchtlingsschiffes vor der sizilianischen Küste aufzuklären. Allerdings ist die Video-Installation von Multiplicity im Kulturbahnhof vielschichtiger und künstlerischer aufbereitet. Der Tod hat auch eine individuelle Seite. Wenn sich sein Schatten über ein Leben und ein Werk legt, dann kommt eine Entwicklung zum Stillstand. Die 1996 gestorbene Iranerin Choreh Feyzdjou hat direkt darauf reagiert, als sie erfuhr, dass ihr Leben zu Ende geht. Sie verwandelte ihre Werke in die Bestandteile eines Depots; die Bilder und Objekte schwärzte sie ein und ließ sie vor ihr sterben. Die von ihr im Fridericianum vorgestellte Installation wird zum großen Todesbild. Eine Ausstellung des Leids bieten ebenfalls die Käfigvitrinen von Louise Bourgois (bei Binding). Den anrührenden Bildern von Verletzungen und tödlicher Gewalt kann sich niemand entziehen. Noch radikaler und dafür umso rätselhafter ist die verbrannte Todeslandschaft mit der zerschnittenen Katze in dem Skulpturenraum von Mark Manders. Dort ist alles an sein Ende gekommen. Ausweglos erscheint auch die Installation von Tania Bruguera, in der die Besucher in die Rollen von Opfern schlüpfen müssen. Sie werden von Scheinwerfern erfasst, hören bedrohliche Schritte und das Spannen eines Gewehres. Ein paar Räume weiter wird diese Todesvision vollendet, wenn man sich den Bildern (von Kendell Geers) gegenübersieht, die eine Filmszene analysieren, in der ein Mann unter Schüssen zusammenbricht. Der Tod lauert überall. Luc Tuymans etwa zeigt ihn in seinem Malerei-Raum bei Binding als Gerippe. Und selbst in der Museumsbibliothek von Meschac Gaba in der documenta-Halle ist er präsent symbolisiert durch einen Sarg, der an den Tod eines Weggefährten erinnert. Die Geschichte dazu erfährt man per Kopfhörer aus dem Sarg.
HNA 4. 9. 2002