Verwandte Arbeiten von Hubertus Gojowczyk (Neue Galerie) und Luis Camnitzer (Kulturbahnhof)
Bücher öffnen den Zugang zur Welt. Ganz gleich, wovon sie handeln, sie weisen über sich hinaus und tragen durch ihre Beschreibungen, Erzählungen und Bilder dazu bei, ein Stück der Wirklichkeit zu verstehen. Wenn man das bedenkt, kann man begreifen, welchen Verlust und welche Qual es bedeutet, wenn man Bücher greifbar vor Augen hat, man sie aber weder in die Hand nehmen noch lesen kann. Es ist eine Art geistiger Folter, wenn man die Seiten, Einbände und möglicherweise sogar die Buchrücken mit den Titeln sieht, aber keinen Zugriff hat. Luis Camnitzer (Jahrgang 1937) hat für die Documenta11 im Kulturbahnhof eine zweiteilige Arbeit geschaffen, die genau das thematisiert. Camnitzer beschwört in seinen Bildern (Fotogravuren) und in zwei Installationsräumen Folterszenen. Die eine Zelle hat zum Flur hin ein Fenster, das zugemauert ist. Die Mauer besteht aus Büchern, die mit Mörtel verbunden sind. Auf diese Weise ist der Zugang zur Welt doppelt versperrt: Durch die Bücherwand dringen weder Geräusche noch Licht von außen in die Zelle. Die in dem dunklen Raum geschaffene Isolation ist perfekt. Nun könnte der Zellen-Insasse sich über die Isolationsfolter mit Lesen hinwegtrösten, aber die erreichbaren Bücher sind so unzugänglich, als lägen sie in einer verschlossenen Vitrine. Man sieht die Bücher, kann in einigen Fällen sogar die Titel lesen, sie sind aber durch das Einmauern versiegelt und so gut wie zerstört. Die Folter wird dadurch vollendet. Die Buchvernichtung ist übrigens auch in einem anderen Beitrag zur Documenta11 ein Thema: Meschac Gaba (Jahrgang 1961) spielt an zwei Orten in den Containern auf dem Friedrichsplatz und in der documenta-Halle mit der Vorstellung, es gäbe ein Museum zeitgenössischer afrikanischer Kunst. In der documenta-Halle hat Meschac Gaba die Bibliothek des fiktiven Museums eingerichtet, deren Bücher von den Besuchern zu nutzen sind. Zur Ausstattung gehört aber auch ein Leuchter, in dessen Mitte verbrannte Bücher aufgereiht sind. Das heißt, dass zum Wesen der Bibliothek auch der Kulturverlust gehört. Verbrannte und verschlossene Bücher waren schon einmal das Thema einer documenta gewesen. In der Medien-documenta von 1977 gab es eine Abteilung, in der von Künstlern gestaltete und bearbeitete Bücher zu sehen waren. Viele Arbeiten hatten einen spielerischen Charakter. Dabei gingen die Künstler mal von der Sprache und dem Druckbild aus, mal vom Objekthaften des Buches. Die Abteilung war im ersten Obergeschoss der Neuen Galerie zu sehen. Auf dem Weg dorthin stießen die Besucher auf halber Treppe auf die größte Arbeit, die bereits ankündigte, dass es hauptsächlich um die Verfremdung und Umkehrung der Buch-Funktionen ging. Der aus Schlesien stammende Hubertus Gojowczyk (Jahrgang 1943), der in Northeim aufwuchs, hatte an der Wand des Treppenabsatzes seine Arbeit Tür zur Bibliothek eingerichtet: Innerhalb eines schwarzen Holzrahmens, der auf ein Portal schließen lässt, hatte er Bücher mit Mörtel eingemauert. Man sieht die Seiten und Einbände, kann aber keine Titel erkennen. Die Arbeit scheint das Ende des Lesezeitalters zu verkünden: Bücher versperren den Zugang zum Archiv des Wissens zur Bibliothek. Gojowczyk arbeitete damals mit den nahezu gleichen Mitteln, die bei dieser Documenta 11 Camnitzer eingesetzt hat. Allerdings hat die Tür zur Bibliothek keine vergleichbar existenzielle Form wie das zugemauerte Fenster. Das fängt damit an, dass sich hinter der Bücherwand weder eine Tür noch eine Bibliothek verbirgt. Während bei Camnitzer das Fenster die Einsperrung verstärkt, bewegt sich die Arbeit von Gojowczyk auf der heiter-spielerischen Ebene. Die Tür zur Bibliothek passte an dieser Stelle so gut in das Museum, dass die Arbeit aus Sondermitteln angekauft wurde. Sie ist also in der Neuen Galerie an der Schönen Aussicht ständig zu sehen (Di-So 10-17 Uhr). Im Moment gewinnt sie eine zusätzliche Bedeutung, weil in einer Sonderausstellung alle documenta-Erwerbungen vorgestellt werden.
HNA 25. 8. 2002