Das erste von drei Magazinen liegt vor – Unterschiedliche Blicke auf die Moderne als ein globales Phänomen
KASSEL/WIEN. Nun endlich liegt es vor, das erste von drei documenta-Magazinen, die interessierte Besuchern eine gedankliche Einstimmung in die Ausstellung ermöglichen sollen. Gestern Abend wurde das Magazin in Wien öffentlich präsentiert. Ab sofort soll es im Buchhandel vorliegen.
Das Magazin ist aus einem Diskussionsprozess hervorgegangen, an dem die Redaktionen von weltweit 90 Kunst-, Fotografie- und Architekturzeitschriften beteiligt waren. Der Wiener Publizist Georg Schöllhamer und sein Team wählten für die erste Ausgabe Beiträge aus, die sich mit documenta-Leitfrage Ist die Moderne unsere Antike? beschäftigen.
Im Würgegriff
Mit großer Selbstverständlichkeit sprechen wir von der Moderne als einem Veränderungsprozess in der Gesellschaft und in der Kunst des 20. Jahrhunderts, der nach Meinung vieler Theoretiker längst an sein Ende gekommen ist. Die Texte in dem Magazin dokumentieren nun, wie sehr unser Verständnis von Moderne westlich (europäisch/amerikanisch) geprägt ist. Besonders leiden die Länder und Kulturen in der Dritten Welt darunter, in denen bis heute die Folgen der Kolonialisierung zu spüren sind. Besonders deutlich macht das der Aufsatz Im Würgegriff des Westens? von Rasheed Araeen, der darlegt, dass selbst die Befreiung der afrikanischen Staaten den Gesellschaften und Künstlern nicht dazu verhalf, eine Identität sowie eigene Vorstellungen von der Moderne zu entwickeln. Eine andere wichtige Erfahrung, die sich aus den Beiträgen ergibt: Die Moderne entfaltete sich keineswegs überall gleichzeitig und sie hatte sehr unterschiedliche Ausprägungen. In Polen etwa entstand nach 1970 eine Avantgarde, die hoch politisch und äußerst experimentell war. Diese Moderne wurde von der Staatsführung erstickt. Dagegen ging die kurze Blüte der chinesischen Avantgarde zu Beginn der 90er-Jahre schnell zu Ende, weil sie vom Markt aufgesogen wurde.
Sieht man von zwei sehr theoretisch angelegten Aufsätzen ab, sind die Texte anschaulich und gut verständlich geschrieben. Sie vermitteln die Gewissheit, wie wichtig die globale Vernetzung über die Zeitschriften und die sich daraus ergebenden Diskussionen sind. Aber es wird auch deutlich, dass man die zeitlichen Verschiebungen und unterschiedlichen Sichtweisen auf die Moderne genau kennen muss, wenn man die documenta 12 verstehen will.
Den Einleitungsessay hat documenta-Leiter Roger Buergel verfasst. Er setzt sich darin auf einfühlsame Weise mit Arnold Bodes erster documenta (1955) auseinander, um zu erläutern, dass es Bodes Wunsch gewesen sei, zu den Wurzeln der damals aktuellen Kunst zurückzugehen. Catherine David, so Buergel, sei 1997 mit der Rückschau auf die kritisch-soziale Kunst der 60er- und 70er-Jahre (Retroperspektive) Bodes Ansatz am nächsten gekommen.
Es ist unschwer, aus Buergels Text und anderen Beiträgen zu dem Magazin herauszulesen, dass ebenfalls die documenta 12 nicht nur auf die gegenwärtige Kunst, sondern auch auf deren Ursprünge blicken wird. Erkennbar wird das auch durch die eingestreuten Porträts von Künstlerinen wie Ruth Vollmer, Mira Schendel, Nasreen Mohamedi, Mariá Bartuszová und Lee Lozano, die vor 30, 40 Jahren aufregende Beiträge zur Moderne lieferten, aber kaum beachtet wurden. Die eine oder andere aus dem Kreis wird in der documenta 12 vertreten sein.
documenta 12 magazine 1: modernity?, deutsch/englisch, Verlag Taschen, Köln, 224 Seiten, 12 Euro.
HNA 27. 2. 2007