Heroische Landschaften, rätselhafte Dramen

Künstler der Documenta 11: Der Kanadier Jeff Wall ist zum vierten Mal in Kassel dabei bekannt durch Großfotos

KASSEL. In ihren Anfängen hat die Fotografie versucht, die Malerei zu verdrängen, indem sie malerische Stimmungen erzeugte. Doch dieser Weg führte nicht zum Ziel. Erfolgreich wurde die Fotografie erst, als sie sich auf ihre ureigenen Mittel besann. Jetzt konnte sie auf vielen Feldern Aufgaben der Malerei übernehmen. Der Kanadier Jeff Wall (Jahrgang 1946) hat als Maler und Konzept-Künstler begonnen. Es gibt Museumsleiter, die ihn heute noch als Maler einstufen, obwohl er seit Jahrzehnten nur mit fotografischen Mitteln arbeitet. Dass Wall dennoch nicht als Fotograf gilt, hat mit seiner sorgfältigen und präzisen Arbeit an seinen Fotos zu tun. Da ist zuerst einmal das Format. Aus kleinen Fotos sind wandfüllende Bilder geworden, in denen das kleinste Detail wichtig wird. Außerdem erhalten die Großfotos dadurch, dass man sie in großen Leuchtkästen sieht, eine Aura wie Gemälde. Die Bilder wirken aus der Tiefe und geben so ihren Motiven Plastizität. Die Monumentalität der Bilder scheint oft im Gegensatz zu den dargestellten Inhalten zu stehen Panoramen von Vorstadtsituationen oder unbedeutend wirkende Alltagsszenen. Aber dieser erste Eindruck täuscht genauso, wie das Gefühl falsch ist, man habe hochkopierte Schnappschüsse vor sich. Jeff Walls Fotos sind sorgfältig inszeniert. Dabei arbeitet der Künstler mit unterschiedlichsten Mitteln. In dem einen Fall verwandelt er durch seine Breitwand-Vergrößerung eine Vorstadtszenerie in eine heroische Landschaft, die voller Entdeckungen ist. In einem anderen Fall präsentiert er einem Streifen wuchernden Grüns vor einer Lamellenwand als ein Zeichen verdrängter Natur und zugleich als eine malerische Komposition. Und dann wieder hat man eine Szene vor sich, die wie die Dokumentation eines Kriminalfalles wirkt dort liegt ein Opfer, hier verlässt jemand den Raum. Jeff Wall ist ein Erzähler, der in seinen Bildern Geschichten entwickelt, deren Pointen wir nicht kennen und deshalb selbst erfinden müssen. Auch das hier gezeigte Bildbeispiel (A Hunting Scene eine Jagdszene) müssen wir selbst deuten. Wir blicken auf eine weite, nichts sagende Vorstadtlandschaft unter einem dominierenden Abendhimmel. Im Vordergrund ein verwildertes Gelände, hinten Wohnhäuser einer Schlafstadt in Reih und Glied. Die Ansicht scheint typisch zu sein, wäre aber belanglos, sähe man links im Vorderdrund nicht zwei bewaffnete Männer. Der eine überquert die Straße und wirft einen langen Schatten, der andere verschwindet wohl gleich zwischen dem Wildwuchs. Eine Jagdszene am Rande der Stadt. Wen oder was jagen die Männer? Spiegelt das Bild die Alltäglichkeit der Gewalt, mit der wir uns auch gerade in Deutschland auseinander setzen? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Zur vorigen documenta hatte Jeff Wall im Fridericianum großformatige Schwarz-Weiß-Bilder mit Alltagsmotiven gezeigt. Außerdem war von ihm in der Unterführung vor dem Kulturbahnhof das Bild eines Mannes zu sehen, der vor einem Haus hockt und aus einer Tüte Milch verspritzt.
HNA 7. 5. 2002

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