Aus allen Kontinenten und Generationen

Die Künstlerliste der Documenta 11 enthält 118 Namen – Foto, Video und Installationen tonangebend

KASSEL. Nun ist sie raus. Die Künstlerliste der Documenta 11 mit ihren 118 Namen liegt vor. Seit 1982 Rudi Fuchs die documenta plante, besteht das Konzept der Kasseler Ausstellung nicht aus Stilbegriffen und Abteilungen, sondern aus der Auflistung der teilnehmenden Künstler. Oftmals hat es Kämpfe um die Liste gegeben, und Catherine David, die von manchen befeindete documenta-Leiterin, war Angriffen ausgesetzt, weil sie sich lange in Schweigen hüllte. Was Catherine David nicht gestattet wurde, durfte sich dagegen der Afroamerikaner Okwui Enwezor erlauben. Zwar wurde er auch gelegentlich nach Konzept und Liste befragt, aber ansonsten konnte er fast unbehelligt die Ausstellung vorbereiten, um dann gestern, fünfeinhalb Wochen vor dem Start der Documenta 11 (am 8. Juni), seine Künstlerliste zu präsentieren. Was besagt die Liste? Da dies die erste documenta ist, die die Kunst aus aller Welt zusammenführt, sind manche Namen auch Kennern nicht vertraut. Um so mehr überrascht, dass einige Künstler, die seit 30 und mehr Jahren zu den überragenden Figuren gehören, auch in diesem Sommer dabei sind. Die alten Helden: Hanne Darboven und On Kawara sind zwei Künstler, deren Arbeit darin besteht, schreibend und malend die Zeit zu bezeugen, in der sie arbeiten. Darboven war 1972 erstmals in Kassel, On Kawara 1977. Noch früher, nämlich 1968, war der 1998 gestorbene Dieter Roth documenta-Künstler. Auch sein Werk besteht zum Teil aus Selbstvergewisserung. Auch seit drei Jahrzehnten dabei sind Bernd und Hilla Becher, deren Fotografien von Bauten skulpturalen Charakter haben. Malerei: Die Zeit der Malerei ist sicherlich nicht vorbei. Doch in Ausstellungen wie der Documenta 11 nimmt sie keine prägende Rolle mehr ein. Der Belgier Luc Tuymans hat mit seiner politisch forschenden Malerei sich einen Platz in der Ausstellung erobert. Andere zeichnerische und malerische Impulse werden Ouattara Watts, Raymond Pettibon und Frédéric Bouabré einbringen. Installation: Eine überragende Rolle werden Installationen einnehmen, in denen gezeichnete, skulpturale, fotografische und filmische Elemente eingesetzt werden. Die Installationen sind begehbare Bildräume. Als Künstlernamen stehen dafür unter anderem: Julie Bargmann und Stacy Levy, Carlos Garaicoa, Kendell Geers und Annette Messager. Fotografie: In vielen Bereichen hat die inszenierte Fotografie die Rolle der Malerei übernommen. Jeff Walls monumentale Fotos gehören dazu wie Bilder von Ulrike Ottinger oder James Coleman. Daneben gibt es einen starken Bereich dokumentarischer Fotografie, für den Touhami Ennadre oder Olumuyiwa Osifuye zu nennen sind. Video: Die Grenzen zwischen Film und Video sind fließend. Viele jüngere Künstler haben in diesen Medien ihre Gestaltungsformen entdeckt. Chantal Akerman, deren Erzählweise schon Catherine David pries, Gaston Ancelovici, Stan Douglas (Bode-Preisträger und mehrfacher documenta-Teilnehmer) und Kutlug Ataman gehören dazu. Film: Der Film erhält ein eigenständiges Podium. Während der Documenta 11 soll es im Bali-Kino im Kulturbahnhof ein umfangreiches Filmprogramm geben, in dem auch Mammutwerke gezeigt werden, die sonst kaum oder gar nicht im Kino laufen. In der Documenta 11 wird es auch die klassische Skulptur geben, unter anderem repräsentiert durch die Altmeisterin Louise Bourgeois, Arbeiten zur Architektur und zum Umgang mit der Stadt und vor allem Projekte, in denen durch die Kombination von gegenständlicher Welt, Computer-Animation und Internet neue Formen des Utopie-Entwurfs erprobt werden. In diesem Bereich wird man viele Künstlergruppen antreffen. Denn nicht überall zählt noch der Künstler als Einzelgänger. Noch wissen wir nicht viel über die Struktur der Ausstellung. Immerhin ist so viel klar: Mit 118 Künstlern ist die Schar der Auserwählten ungefähr so groß wie vor fünf Jahren. Alle früheren documenten hatten weit mehr Künstler präsentiert. Andererseits ist durch die Einbeziehung der Binding-Brauerei die Ausstellungsfläche so groß wie nie. Das bedeutet, dass die Arbeiten der eingeladenen Künstler in größeren Zusammenhängen, möglicherweise jeweils in eigenen Räumen gezeigt werden können. Okwui Enwezor interessieren allerdings, wie er in der Pressekonferenz gestern die Bezüge zwischen den Künstlern und ihren Projekten. Die Wechselwirkungen sollen sichtbar gemacht werden. Wohl wird es zur Documenta 11 Workshops mit einzelnen Künstlern geben, doch ein begleitendes Veranstaltungsprogramm wie 100 Tage 100 Gäste zur vorigen documenta ist nicht geplant. Der politisch-gesellschaftliche Hintergrund wird stattdessen in den Videos und Büchern über die vorausgegangenen Plattformen dokumentiert.
HNA 1. 5. 2002

Kommentar

Die documenta hat sich gern als Weltkunstausstellung bezeichnen lassen. Doch in Wahrheit war sie früher auf die europäisch-amerikanische Kunstsicht begrenzt. Außerdem waren die bisherigen zehn documenten aus europäischem Blickwinkel gestaltet worden. Also entsteht erst jetzt, unter der Leitung des Afroamerikaners Okwui Enwezor, so etwas wie eine Weltkunstschau. Die Westkunst, die uns lieb und teuer war, wird zu einem Element unter vielen. Und afrikanische oder asiatische Künstler präsentieren neue Zügangsweisen zur Auseinandersetzung mit der Welt.

Enwezor setzt fort, was die Französin Catherine David 1997 begonnen hat: Er sieht die bildnerischen Äußerungen in Film, Video, Fotografie, Installation, Malerei und Skulptur als ei¬ne Einheit, plant also ein großes Filmprogramm und wird vielen Künstlern die Möglichkeit für Video-Installationen bieten.

Auch in anderer Hinsicht spitzt Enwezor das zu, was David begann: Die Künstler, die kritisch die Welt befragen, treten in den Vordergrund. Unter diesen Voraussetzungen passen altvertraute, Namen und junge Talente zusammen.

HNA 1. 5. 2002

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