Morgen abend endet nach 100 Tagen die documenta X – voraussichtlich mit einem Besucherrekord. Mehr als 620000 werden die Kunstschau gesehen haben. Der Streit um das Konzept aber dauert an.
KASSEL Was muß, was darf eine Ausstellung wie die Kasseler documenta leisten? Der Streit ist spätestens seit der documenta III immer wieder geführt worden, aber noch nie so heftig und ausdauernd wie in diesem Jahr. Auch die Ausstellungen von Harald Szeemann im Jahre 1972 und von Jan Hoet vor fünf Jahren beispielsweise hatten kräftige Verrisse eingeheimst. Doch so empörte und leidenschaftliche Ablehnungen eines Konzeptes hat es noch nicht gegeben. Spröde, freudlos, theorielastig und unsinnlich ist die documenta X genannt worden. Und es gab nicht wenige, die geradezu vor einer Fahrt nach Kassel und vor einem Gang über den Parcours warnten.
Es wird sich lohnen, einmal die unterschiedlichen Gründe für die Ablehnung der Person und des Konzepts von Catherine David zu untersuchen. Daß sie die erste Frau an der documenta-Spitze ist, spielte gewiß ebenso eine Rolle wie die Tatsache, daß sie allein (ohne weitere Kuratoren) und unbeirrt ihren Weg ging. Mißtrauen säte sie natürlich durch ihre unbedachten oder als arrogant empfundenen Äußerungen. Doch viele verziehen ihr nicht, daß sie der documenta weitgehend ihren Unterhaltungswert nahm. Kurioserweise trafen sich an diesem Punkt die Meinungen vieler Experten und Laien. Sie vermißten die Möblierung der Stadt mit spektakulären Außenskulpturen und sie bedauerten, daß die documenta ihnen weitgehend die gewohnten Werke vorenthielt – vor allem die Malerei.
Allerdings ist übersehen (oder nicht zur Kenntnis genommen) worden, daß damit die französische Ausstellungsmacherin genau das einhielt, was sie von Anfang an versprochen hatte: Sie nahm die Sonderstellung der documenta in dem Sinne ernst, daß sie sie aus dem Kreislauf der Novitätenschauen herausholte. Da internationale Großausstellungen zur zeitgenössischen Kunst heute zum Alltag gehören, muß die documenta, das hatte sie richtig erkannt, eine Rolle suchen, die vom bloßen Ausstellen aktueller und wichtiger Kunstwerke wegführt.
Über keine andere documenta sind so viele kritische Berichte erschienen wie über diese. Das ist einerseits durch das gewandelte Selbstverständnis der Medien begründet und das liegt andererseits an der fortdauernden Kontroverse. Leider ist allerdings bisher viel zu wenig diskutiert worden, auf welchem Feld die documenta ihre Zukunft sichern kann. Allzuoft ist die Diskussion ausschließlich auf das Kunstverständnis von Catherine David eingeengt worden. Die eigentliche inhaltliche Auseinandersetzung muß also noch stattfinden.
Für die größten Irritationen hat die documenta X dadurch gesorgt, daß sie die kritische Sicht auf die bildende Kunst unserer Jahrhunderthälfte in eine kulturelle Bestandsaufnahme einbezog. Obwohl die in der Ausstellung zu besichtigende Kunst immer noch im Zentrum stand, hatte sie in dieser documenta ihren Vorrang verloren. Bildnerische Entwürfe von Architekten wurden genau so wichtig wie künstlerische Installationen oder wie Darlegungen von Schriftstellern und Philosophen.
Seit Joseph Beuys ist viel über die Erweiterung des Kunstbegriffes gesprochen und geschrieben worden. In der documenta X ist der Begriff in ganz neuer Weise erweitert worden: Die Kunst wurde nicht mehr als ein isoliertes System betrachtet. Viel mehr wurde all das mit in den Blick genommen, was angrenzt und was dazu beiträgt, daß die Kunst gesellschaftlich verankert wird.
Es ist leicht und schnell gesagt, die documenta X hätte alte (politische) Positionen der 60er Jahre aufgewärmt. Die Behauptung zieht aus zwei Gründen nicht: Die Arbeiten der 60er Jahre, die jetzt in Kassel zu sehen sind (Lygia Clark, He?lio Oiticica, Michelangelo Pistoletto, Övynd Fahlström), waren hier weitgehend unbekannt; außerdem, so zeigt sich, sind sie längst nicht erledigt. Die Moderne mag zwar für weite Teile des Kunstbetriebes abgehakt und überwunden sein, doch die Anstöße, die sie gegeben hat, sind von der Gesellschaft längst nicht verdaut und wirken bei jüngeren Künstlern noch nach.
Die documenta 5 von 1972 sollte ursprünglich als eine facettenreiche Sehschule angelegt werden. Dank der spektakulären Abteilungen „Individuelle Mythologien“ und „Realismus“ wurde sie zu einer viel diskutierten Schau mit neuen Tendenzen der Kunst. Die documenta X ist, wenn auch auf Grund anderer Ideen, zu einer umfassenden Besucherschule geworden. Nie zuvor hat es eine so inhaltlich fest umrissene, thematische und politische documenta gegeben: Wer sich auf diese Ausstellung eingelassen hat, weiß heute mehr über die Funktion der Bilder (und deren Wandel) sowie über das Verhältnis des Menschen zur Stadt.
Gewiß hat die documenta die ausgestellten Werke instrumentalisiert. Aber das macht jede Übersichtsausstellung auf ihre Weise. Der documenta ist es jedoch gelungen, den Blick vom Einzelwerk auf den Gesamtzusammenhang zu lenken.
Die Kasseler Ausstellung ist spätestens seit 1968 ein Hundert-Tage-Ereignis. In diesem Sommer allerdings erfüllte sich dieser Begriff mit neuen Leben: Die Reihe „100 Tage – 100 Gäste“ erweiterte die Ausstellung um eine neue, lebendige Ebene. Daß diese Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen so großartig funktionierten und einen fortdauernden Diskurs in Gang setzten, war auch der Tatsache zu verdanken, daß durch die Gemeinschaftsarbeit mehrerer Künstler die documenta-Halle einen skulpturalen Charakter gewonnen hat. Dort wurde das Gespräch sinnlich erlebbar. Die nächste documenta wird diese Erfahrungsebene nicht außer acht lassen können.
HNA 27. 9. 1997