Keine Frage mehr nach dem Kern

Die Neue Galerie in Kassel besitzt einen neuen Künstlerraum: Ulrike Grossarth (Jahrgang 1952) schuf eine Installation aus Bildtafeln, Tischen, Gegenständen und Projektionen.

KASSEL Unmittelbar hinter der Eingangshalle liegt in der Neuen Galerie in Kassel der Beuys-Raum, dessen zentrale Arbeit „Das Rudel“ ist. Daran schließt sich ein Raum mit zwei Durchgängen zu den Seitengalerien an, in denen Werke des 18. und 19. Jahrhunderts versammelt sind. Diesen Platz nun, ein Gelenkstück zwischen alter und neuer Kunst, konnte Ulrike Grossarth übernehmen, um darin ihre Arbeit einzurichten, die sie „Kasseler Raum – ferne Zwecke“ nennt und die sie als eine Art Vorstufe zu ihrem Beitrag zur vorigen documenta ansieht. Das für diesen Ort entwickelte Projekt wurde aus documenta-Ankaufsmitteln finanziert.
Ulrike Grossarth sieht es als Glücksfall und Bürde zugleich an, daß sie an so prominenter Stelle ihre Arbeit präsentieren kann. Mit Beuys verbindet sie die Begriffsarbeit und das neue Sehen der Gegenstände und Materialien, die sie nicht mit Bedeutungen aufladen, sondern einfach so nehmen will, wie sie sind. Und zum 18. Jahrhundert hat sie eine unmittelbare Beziehung hergestellt: Die Formen, die sie auf den 209 Bildtafeln auf den drei Wänden vorstellt, hat sie als eingefärbte Umdrucke der im 18. Jahrhundert erschienenen Enzyklopädie entnommen, die zum Sinnbild der Aufklärung geworden ist. Andererseits läßt sie an einer Wand die Dreifachprojektion der Kalliope (Muse der Dichtkunst) erscheinen, die Joh. H. Tischbein 1780 gemalt hat und die nebenan in einer Vitrine als Gemälde zu sehen ist.
Im Vergleich zu ihrer documenta-Arbeit „Bau I“, die mit ihren der Warenwelt entnommenen Gegenständen und Lichtbildprojektionen spröde wirkte, erscheint der „Kasseler Raum“ dicht, sinnlich und poetisch. Vor allem die 209 kompakt gehängten Bildtafeln, in denen die farbigen rätselhaften Motive aus schwarzen Passepartouts herausleuchten, stellen die Intensität her. Die Auseinandersetzung mit ihnen erübrigt auch die Frage, warum gerade die Muse der Poesie als Schutzgöttin herbeizitiert wurde: Die der Enzyklopädie von 1751 entnommenen und aus dem Zusammenhang gelösten Formen ergeben für die Künstlerin den Kosmos plastischer Elemente, die eingängig, aber sprachlich schwer faßbar sind. Das heißt, daß die Tafeln als eine vorsprachliche Poesie zu verstehen sind. Nicht über die Beschreibung, nur durch das Auge können sie erfahren werden.
Bewußt hat die Künstlerin die Bilder der Formen vereinzelt, auch wenn von jeder zwei erscheinen. Mittendrin hängt eine Zeichnung von Grossarth auf weißem Grund, die programmatisch die Verbindung herstellt zwischen der Wandarbeit und den beiden Tischen. Auch hier setzt sich Ulrike Grossarth mit dem Spannungsverhältnis von Vereinzelung und Paarbeziehung auseinander.
Noch wichtiger aber ist ihr, daß die Dinge nicht als mit Bedeutungen aufgeladene Objekte verstanden werden, sondern als reine Gegenstände. So hat sie die zylindrischen Gipsformen entkernt, um provokativ sie um ihren Kern zu bringen, nach dem man immer wieder fragt. Die Künstlerin will zum schlichten Sehen und Begreifen zurückführen. Damit setzt sie – mit anderer Stoßrichtung – genau die Auseinandersetzung fort, die vorher die Arbeiten von Marcel Broodthaers an dieser Stelle geführt haben, die nun in einem Kabinett im 1. Stock gezeigt werden.
Mit der Fertigstellung der Grossarth-Arbeit wurden auch die anderen documenta-Neuerwerbungen offiziell vorgestellt: Ein Triptychon von Kurt Kocherscheidt, ein neueres Bild von Pierre Soulages und das Bild „Passage“ aus dem viel diskutierten documenta-Raum von Richard Hamilton. Dieses wichtige, die Malerei, Fotografie und Kunstgeschichte reflektierende Werk, ist allerdings unglücklich plaziert und geht fast unter.
Zwei hochrangige Skulpturen gelangten zudem als Schenkungen der Familie Dierichs in die Neue Galerie. „Amor und Psyche“ (1886) von Auguste Rodin sowie „Hill Arches“ (1972, Hügel-Bögen) von Henry Moore. Sie schließen wichtige Lücken innerhalb der Skulpturensammlung.
HNA 16. 5. 1998

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