Wenn Kunst nicht von Können kommt

Der aus Hannover stammende Künstler Dieter Roth (Jahrgang 1930), der in der Schweiz und in Island lebte, ist einem Herzversagen erlegen. 1968 und 1977 war er an der documenta beteiligt.

Von Friedrich Hölderlin stammt der Satz „Das erste Kind der göttlichen Schönheit ist die Kunst“. Sätze dieser Art haben die Kunstgeschichte geprägt. Und genau gegen dieses Verständnis von Kunst sind Künstler in unserem Jahrhundert Sturm gelaufen – erst die Dada-Bewegung (ab 1915) und dann die Aktions- und Fluxus-Strömungen der 60er Jahre. Einer der wichtigsten von ihnen war der Autor, Grafiker und Objektemacher Dieter Roth (auch: Diter Rot). Er stellte alles in Frage, was traditionell die Kunst ausgemacht hat – die Vorstellungen von Schönheit, von Perfektion und von Ewigkeitsdauer. Kunst, so wollte er beweisen, komme nicht von Können.
Natürlich stimmte das auch bei Roth nie ganz. Er war ein Künstler, dessen schöpferische Kraft sich mittels Stift und Feder entfaltete. Auf dem Papier entwickelten sich seine ebenso gewöhnlichen wie komplexen Gedanken – mal als beschreibender (literarischer) Text, mal als Zeichnung. Als Roth 1982 die Schweiz auf der Biennale in Venedig vertrat, ließ er an Stelle eines Kataloges eine Sammlung fotokopierter Blätter verteilen, auf denen er tagebuchartig in Texten und Polaroid-Fotos seine Vorbereitung auf den Biennale-Auftritt niedergelegt hatte. Was im Moment als Akt der Verweigerung erscheinen mochte, wirkt aus der Distanz wie eine umfassende Reflexion des alltäglichen Lebens.
Seine Nähe zu Schrift, Text und Zeichnung ließ Roth zu einem Meister des Künstlerbuchs werden. Aber während diese Künstlerbücher – auch wenn sie als Faksimiles verbreitet wurden – eher nur die Kenner erreichten, wurden zahlreiche seiner Objekte und Skulpturen bekannt und legendär, weil sie die Grundgesetze der Kunst auf den Kopf stellten. So war bis Ende vorigen Jahres als Teil der Sammlung Herbig in der Neuen Galerie in Kassel Roths Skulpturenturm „7×3 Zwerge“ (von 1969) zu sehen, der aus 21 Gartenzwergen bestand, die in Blockschokolade eingebacken waren. Unter der darübergestülpten Plexiglashaube hatte sich der Turm geneigt und zu schimmeln begonnen. Die süßen Zwerge in der süßen Masse wurden zu einem provokativen Mahnmal der Vergänglichkeit.
Und wenn sich Restauratoren heute Gedanken darüber machen, wie sich ein solches Objekt erhalten läßt, dann vollenden sie im Sinne Roths die Perversion des Kunstbetriebes. Schmunzelnd hat er registriert, was er da einst in Gang gesetzt hatte.
HNA 9. 6. 1998

Schreibe einen Kommentar