Keine documenta zuvor hat sich so intensiv auf die Auseinandersetzung mit den Randzonen und den Schattenseiten der Städte eingelassen wie die dX. Das macht sie nicht unbedingt beliebt.
KASSEL Das Spektakuläre fehlt: Viele Kunstexperten und Laien, die sonst völlig unterschiedliche Meinungen vertreten, sind sich in dem einen Punkt einig, wenn es um die documenta X geht – sie vermissen die Objekte, die das Stadtbild beleben, an denen man sich „festhalten“ kann. Selbst ein politischer Aufklärer wie der Grafiker Klaus Staeck sähe lieber den Friedrichsplatz mit Skulpturen möbliert.
Die Vorgänger-Ausstellungen haben Ansprüche geweckt, jetzt wird von der documenta Stadtbelebung erwartet. Hat also die documenta X versagt? Keineswegs. Eher ist das Gegenteil richtig: Keine frühere documenta hat sich derart intensiv auf die Stadtstruktur und deren Probleme eingelassen wie die jetzige. Allerdings hat Catherine David nicht solche Künstler eingeladen, die die Stadt dekorieren, also um verschönende oder unterhaltende Elemente bereichern. Vielmehr kamen in der Hauptsache die Künstler nach Kassel, die ihre Finger in die Wunden der Stadt legen, die die Schattenseiten kommentieren und die von den beliebten Ort zu den gemiedenen Unorten locken.
Kein Wunder, daß bis heute viele Bürger, die stolz sind auf ihre Stadt und deren Attraktionen, in Unfrieden mit der documenta leben. Da werden die Besucher (bis Sonntag waren es 467000) zu Scharen etwa in die Fußgängerunterführungen zwischen Kulturbahnhof und Treppenstraße gelenkt, obwohl doch genau dies Orte sind, die man mit Gästen nicht betreten würde.
Wie umfassend thematisch der Ansatz der documenta X ist, wurde am Wochenende bei der Aufführung der Theaterskizzen spürbar. In den Szenen ging es um Leben, Liebe und Tod – Motive, die allgemein menschlich, aber nicht documenta-spezifisch sind. Doch die Schauplätze waren genau die Unorte, mit denen sich auch zahlreiche Arbeiten auseinandersetzen: stillgelegte Gleise am alten Hauptbahnhof, die unwirklich scheinende Welt unter der Dom-artigen Betonbrücke, die den Bahnhofsvorplatz und das neue Polizeipräsidium verbindet, oder das menschenfeindliche Areal rund um die unterirdische Straßenbahnhaltestelle am Hauptbahnhof.
Das Faszinierende an den Theaterskizzen war, daß sie diese Unorte in Bühnen verwandelten, die das traditionelle Theater nur mit sehr viel Phantasie hätte entwerfen können. Andererseits befand man sich genau dort, wohin Jeff Wall oder Marc Pataut mit ihren Fotoarbeiten innerhalb der Ausstellung entführen.
Wenn wir an Städte, vor allem an Metropolen denken, dann haben wir weitläufige urbane Räume vor Augen und die meist faszinierenden Zentren mit ihren historischen Strukturen. Diese documenta aber lenkt den Blick auf den Teil, der die Hauptmasse repräsentiert – auf die vernachlässigten Räume, auf die wuchernden Siedlungsgebiete und ungeliebten Brachflächen. Da, wo die Stadt ihr Gesicht verliert, andererseits aber die Massen wohnen, da, wo sich eigene Lebensräume und Kulturen entwickeln, entdecken Künstler ihre Motive.
Mit diesen Motiven kann man nicht hausieren gehen. Sie sind nichts für die Werbeprospekte, aber gleichwohl von großer Präsenz. Die documenta X führt eine uns berührende und betreffende Seite der Wirklichkeit vor, die wir lieber verdrängen. Kein Wunder, daß viele die Ausstellung als unsinnlich empfinden.
HNA 9. 9. 1997