Die Bilder öffnen sich

Zum malerischen Werk von Maarten Thiel

Nach acht Jahren hat sich Maarten Thiel zum zweiten Mal an ein Buchprojekt herangewagt. Das erste, die in der Edition Monika Beck erschienenen „Randbemerkungen“, hatte sich auf den zeichnerischen Aspekt konzentriert. Den Kern bildete dabei eine Serie von 40 Zeichnungen, die Maarten Thiel mit einer an die physischen Grenzen führenden Obsession innerhalb von acht Monaten geschaffen hatte. Der vorliegende Band wendet sich dem malerischen Werk zu, das im Anschluss an das erste Buchprojekt (ab 1987) entstanden ist, wobei der Schwerpunkt bei den Bildern der letzten beiden Jahre liegt.

Maarten Thiel ist ein produktiver Künstler, der in kleinen und jüngst auch sehr großen Formaten malt, der zeichnet, radiert, Mischtechniken herstellt und sich mit plastischen Arbeiten auseinandersetzt. Insofern ist nicht sofort zu ermessen, welche kraftzehrende Herausforderung in dem Zeichnungsprojekt von 1985/86 steckt. Am Anfang mag der auferlegte Zwang gestanden haben, sich in ununterbrochener Folge der einen Technik (vorwiegend Graphit, Farbstift und Acryl auf Papier) und dem einen Format auszusetzen und ein Themenspektrum auszuschöpfen. Am Ende aber zeigte sich, und das ist heute klarer als vor acht Jahren, dass die Fertigstellung der 40teiligen Serie einen Wendepunkt in seinem Schaffen markierte. Unversehens hatte ihn die Arbeit an den Zeichnungen zu einer Selbstbefragung und Standortsuche gezwungen: Durch die Zeichnungen fand er ein neues Verhältnis zum Bildgrund und zur Komposition – und auch zur Malerei.

I. Der Zeichner und Maler

Maarten Thiel zeichnet und malt. Er vereinigt zwei Temperamente in sich, die miteinander konkurrieren, die sich gegenseitig ergänzen und korrigieren. Für lange Zeit überwog in den 70er und frühen 80er Jahren das zeichnerische Element. Die Linie dominierte und mit ihr das erzählerische Moment. Die Farbe war nie vergessen, aber häufig kolorierte sie, ordnete sich der Linie unter oder schuf Unter- und Zwischengründe, drang als belebende Folie in die Bilder ein. Maarten Thiel erschien in vielen seiner Zeichnungen, Radierungen und auch Gemälde als ein Künstler, der die Betrachter in phantastische Welten entführte.

In der Zeichnungsserie von 1985/86 gibt es auch noch Spuren dieser Kompositionsweise, doch eine andere Kraft wird weitaus wirksamer: über die Darstellung von Dreiecken, Segeln, Flächen, Flecht- und Gitterwerken hinweg tritt der Zeichner in einen direkten Dialog mit dem Bildgrund. Er zeichnet hinein, kratzt darüber, wischt weg, legt Farbe darauf und zeichnet wieder in schnellen kurzen Bögen. Auf einmal tritt das Motiv zurück und verliert seine tragende Funktion. Stattdessen beginnt der traktierte Bildgrund zu pulsieren, sorgen die mit- und gegeneinander laufenden Striche und Schraffuren für Rhythmus und Dynamik, bilden sich tiefe, ungewisse Schichten. In und mit der Zeichnung gewinnt die Malerei von Maarten Thiel eine ungeahnte neue Kraft. Die Fläche, die nichts zu erzählen hat, wird mit dem Motiv gleichgewichtig.

II. Aufbrechende Bildflächen

Wenn man es genau nimmt, war das für Maarten Thiel keine neue Erfahrung. In den 60er Jahren, in seiner Anfangszeit, hatte er schon einmal in ähnlicher Weise gemalt. So ist es gewiss kein Zufall, dass einige Gemälde aus den 90er Jahren wie Fortschreibungen der frühen Malerei erscheinen. Der Ausgangspunkt, das gehört wohl zum Wesen der Kunst, bleibt immer der Nabel; stetig wird er umkreist.

Obwohl Maarten Thiel in seinen vor 1985 entstandenen Gemälden und Mischtechniken schon seine Bildflächen aufgebrochen und die Malerei zur Diskussion gestellt hatte, begann mit der Zeit danach ein neuer Abschnitt in seiner Kompositionskunst. Der Maler, der früher eher, dem Zeichner folgend, zum kleinen Intimen Format drängte, wagte sich nun auch auf mehrere Quadratmeter große Bilder vor. Und siehe da, die Monumentalität, die man in den Kleinstformaten vermutet hatte, hatte auch auf der großen Leinwand Bestand. Entscheidend jedoch wurde, dass immer seltener der erzählerische Impuls zur treibenden Kraft wurde. In den Gemälden der letzten Zeit bilden sich weder reale noch phantastische Räume ab, auch sonst gibt es keine Hinweise auf Geschichten oder Visionen. Bestenfalls tauchen Erinnerungszeichen auf – Winkel und Ellipsen, Dreiecke, Kreuze und Balken sowie Überbleibsel von realen Formen. Die geometrisch geprägten, rationalen Zeichen bilden Gegengewichte zu der weichen, zuweilen amorphen und ganz auf sich selbst bezogenen Malerei.

III. Nähe zur Monochromie

Es entstehen zarte poetische Bilder, die sich unversehens dem Betrachter öffnen: Die Farben sind aufgehellt, mit Licht erfüllt, sie machen die Flächen wie durchscheinend. Der Raum gewinnt eine neue, aber unspezifische Dimension. Aus dem Dialog der kontrastierenden und sich teilweise überlagernden Farbformen erwachsen faszinierende Harmonien. Doch da, wo sie zu stark und zu eindeutig werden, greift der Maler störend mit grob hingesetzten Übermalungen ein. Und immer wieder setzt sich im Maler der Zeichner durch, der mit harten, dichten Strichfolgen Lichtbündel in die Flächen hineinprojiziert, Farbe wegnimmt und die gestaltende Hand spüren lässt.

Einige Kompositionen sind von großen Formen beherrscht, von farblich herausstechenden Segmenten, die mal mehr Scheiben und dann wieder eher Türmen oder Gitterwerken ähneln. Auch gibt es Bilder mit heftig aufeinander stoßenden, leuchtenden Farbflächen; in diesen Gemälden scheint sich die Farbe aus dem Bild zu lösen. Es überwiegen jedoch die zarten Kompositionen, in denen das Weiß in allen seinen Schattierungen (zwischen Grau und Ocker) dominiert, in denen die Fläche zu atmen beginnt und in denen Maarten Thiel an die Grenzen der Monochromie stößt.

Erstaunlich ist, welche großen Reihen atmosphärisch ähnlicher Bilder Maarten Thiel geschaffen hat, ohne sich zu wiederholen oder ohne sich in der Routine zu erschöpfen. Es ist, als würde er aus einem schier unendlichen Vorrat Schicht um Schicht freilegen. Vielleicht ist dieser Reichtum der Tatsache zu verdanken, dass er nach wie vor seine Bilder aus seinem Inneren holt. Aber ebenso wichtig ist, dass er sich selbst dem Gesetz seiner Bilder unterordnet: Sowie er eine Komposition begonnen hat, beginnt die ihr Eigenleben zu entwickeln. Am Ende fühlt der Maler sich nicht mehr frei und es kann passieren, dass genau jener Bildteil, der für ihn der Anlass zum Malprozess war, nicht mehr zu sehen ist.

IV. Farbe und Raum

Trotzdem greift der Maler auch bewusst korrigierend ein, denn gelegentlich wirken die Farbbalken und -winkel wie widerständige Zeichen, wie rationale Setzungen gegen eine in sich selbst verlierende Malerei. Aber auch diese Brechungen haben in Thiels Werk Tradition. Schon immer liebte er es, mit irritierenden Linien und Pfeilen, Schraffuren und Zahlen, die Kompositionen zu unterlaufen und ihnen ihre Eindeutigkeit zu nehmen.

Die fest umrissenen Formen können auch Eigenleben entwickeln. Mal treten sie reliefartig hervor wie in den Multiples, die Maarten Thiel begleitend zu diesem Buch hergestellt hat, dann wieder gewinnen sie eine eigene plastische Gestalt und verhelfen der Farbe zu skulpturalen Körpern im realen Raum. Die plastischen Wandarbeiten Thiels oder seine farbigen Skulpturen sind dann natürliche Kinder dieser Malerei.
Aber auch die Malerei schafft sich ihre Räume: Indem die Malerei sich selbst thematisiert und die Farbflächen sich gegenseitig aufschließen und ergänzen, tun sich Bildräume auf, die nichts anderes offenbaren als den Rhythmus der Farben.

1994, Text zum Buch Maarten Thiel: Malerei 1987-1994 und Arbeiten im öffentlichen Raum, S. 6 – 10
Verlag Weber & Weidemeyer, Kassel
ISBN 3-925272-36-4

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