Die Innenwelt in der Außenwelt

Der Blick nach draußen

Ein weit geöffnetes Fenster. Der Blick geht über die schmale Straße auf das gegenüber stehende Haus, von dem man nur einen Teil der Fassade mit einer senkrechten Fensterreihe sieht. Die Hauskante markiert fast genau die Mitte des Fensters, durch das man sieht. Links davon ist, perspektivisch verkürzt, die Seitenwand des wahrscheinlich vierstöckigen Gebäudes zu erkennen, eine unverputzte Backsteinmauer, an die mal ein weiteres Wohnhaus angebaut werden sollte. Doch die Fläche blieb leer, und so versperrt jetzt ein Holzzaun den Zugang zum Grundstück. Im Hintergrund schließen etwas niedrigere Bauten die Hinterhofsituation ab. Deren Fenster und Schornsteine lassen auf kleine Fabrikationsräume schließen. Überragt werden diese Gebäude von einem Kran, der von Umbruch und Umbau kündet.

Der Ausblick ist alltäglich und alles andere als schön. Immerhin lassen die Schatten auf der anderen Straßenseite erahnen, dass zwischen die Häuser das Sonnenlicht fällt. Das Wohnhaus, aus dem man herausschaut, hat seine beste Zeit lange hinter sich. Die Scheiben des Oberlichts sind undicht oder zerborsten und notdürftig mit Stücken aus einem Seifenkarton zugeklebt. Auch an der rechten Fensterscheibe klebt eine Zeitung, vielleicht um den Lichteinfall zu dämmen, weil die Vorhänge ihren Dienst versagen. Vielleicht aber auch aus Protest.

Denn im Gegensatz zu der auf dem Fensterbrett liegenden Zeitung, von der nur der Titel zu erschließen ist, kann man auf dem sichtbaren Teil des Zeitungsblatts, das an der Scheibe hängt, die Überschrift lesen und ein Foto erkennen. Das Foto zeigt ein Haus, das in etwa so aussieht, wie es auf der anderen Straßenseite steht. Ja, es könnte sich genau um dieses Wohnhaus handeln. Die nur in Bruchstücken lesbare Überschrift handelt offenbar von einer Protestaktion im Zusammenhang mit einer Sanierung: „Vom Dach aus Protest… Sanierung in der Nord…“. Ist jemand vom Dach gesprungen, weil er gegen die Sanierung durch Abriss protestieren wollte? Und: Ist das Foto von dem Haus auf der Zeitungsseite durchgestrichen, weil es abgerissen werden soll? Die Fragen bleiben offen.

Das „Wuppertaler Fenster“ ist 1980 entstanden. Zusammen mit anderen Zeichnern war Rolf Escher 1979 von dem Galeristen Enno Hungerland eingeladen worden, für ein Ausstellungsprojekt in der Wuppertaler Nordstadt zu zeichnen, deren Häuser aus der Gründerzeit (vor und um 1900) saniert und abgerissen werden sollten. Das „Nordstadtprojekt“ sollte zu einer Art künstlerischen Besetzung werden, zumindest aber die vom Abriss bedrohten Häuser dokumentieren helfen. Die Aktion markierte ein Umdenken, das sich in eben dieser Zeit auch andernorts vollzog. Selbst dort, wo von einer Schönheit der Baukultur nicht die Rede sein konnte, wurden deren Solidität und Würde, wie sie sich in der Fensterlaibung offenbart, erkannt.

Wuppertaler Fenster Werkstattwand Treppenhaus zum Atelier

Diese Zeichnung und die anderen aus demselben Anlass entstandenen Blätter verleiteten manche Betrachter dazu, Rolf Escher als einen sozialkritischen Künstler zu vereinnahmen. Der in die Nordstadt eingeladene Zeichner hatte gewiss auch gegen den leichtfertigen und gedankenlosen Abriss von Häusern, die heute, wenn sie erhalten blieben, unter Denkmalschutz stehen, angearbeitet. Schließlich verleihen seine Bilder dem Gewöhnlichen Würde. Aber diese zweckgebundene und zielgerichtete Arbeit blieb eine Ausnahme. Wohl wandte sich Rolf Escher immer wieder zeichnerisch Bauten zu, die vom Verfall gezeichnet sind, doch folgte er dabei eigenen, ästhetischen und nicht sozialkritischen Motiven.

Gleichwohl hatte das Wuppertaler Engagement weit reichende Folgen. Es bestärkte Escher darin, sich vermehrt und schließlich systematisch der Außenwelt zuzuwenden. Er hatte sich bis dahin in Radierungen und Zeichnungen vornehmlich mit Stillleben und Innenräumen auseinander gesetzt. Nun begann er, auf seine Reisen regelmäßig das Skizzenbuch oder einen Block mitzunehmen und Straßenschluchten und Fassaden, Eingänge und Durchfahrten, Treppenhäuser und Innenräume vor Ort festzuhalten.

Aber selbst das „Wuppertaler Fenster“ ist keineswegs nur als der kritische Kommentar zu einer später überwundenen Kahlschlagpolitik zu sehen. Die Zeichnung ist, wenn man so will, ein Bild des Übergangs von der Innenwelt in die Außenwelt und zurück in die Innenwelt . Sie weist eine Eigenart auf, die zahlreiche Arbeiten Eschers kennzeichnen. Denn der Zeichner liebt es, gefundene Räume in Beschlag zu nehmen und selbst auszustaffieren: So stehen und liegen auf dem Fensterbrett ein leerer Teller und auf einer zusammen gefalteten Zeitung eine leere Bierflasche, deren Schnappverschluss nach unten hängt. Dazwischen sieht man noch drei kleinere Gegenstände, die schwer identifizierbar sind. Konzentriert man den Blick auf das Fensterbrett, dann entsteht wie von selbst ein Bild im Bild – ein Stillleben.

Man kann dieses Stillleben ganz profan deuten – als die Reste einer Frühstückspause des Bewohners oder eines Bauarbeiters. Doch ist nicht zu übersehen, dass Rolf Escher in diesem Stillleben das klassische Vergänglichkeits- und Todes-Motiv aufnimmt: Das Brot ist gegessen, das Bier getrunken und die Zeitung als Unterlage beiseite gelegt. Die Zeit ist abgelaufen, das Leben erschöpft. Damit spitzt sich in dem Stillleben, das wie auf einem Altar arrangiert ist, nochmals das zu, was in der Gesamtkomposition anklingt. Indem man das wahrnimmt, spürt man, wie sich das anfangs erkannte sozialkritische Element verflüchtigt.

Die Suche nach dem Menschen

Einer Ausstellung und dem sie begleitenden Katalog hatte Rolf Escher den Titel „Hinterlassene Räume“ gegeben. Auch bei dem „Wuppertaler Fenster“ haben wir es mit einem hinterlassenen Raum zu tun: Jemand hat das Fenster geöffnet und hat den Teller sowie die Zeitung und die Bierflasche zurückgelassen und ist verschwunden. Wir spüren, dass da jemand war oder gleich wieder erscheinen könnte, aber der Mensch ist nicht zu sehen. Das gilt in gleicher Weise für das Café in der Zeche Zollverein. Der Raum ist zwar mit Tischen und Stühlen zugestellt, ansonsten aber leer. Doch vorne stehen zwei Gläser und eine Flasche, nur skizzenhaft angedeutet, aber unübersehbare Zeugen dafür, dass Menschen dort gesessen und getrunken haben. Ähnliches gilt für das „Straßenbahn-Innere“: Auf der rechten Bank liegt ein Koffer, und auf der anderen Bank sowie auf dem Boden sieht man Zeitungsseiten. Der Straßenbahnwagen wirkt, als wäre er übereilt verlassen worden. Die Hinterlassenschaften deuten eine Geschichte an, die nicht weiter erzählt wird. Ein aufgeschlagenes Buch in der „Gymnasialbibliothek in Meppen“, Stuhlreihen im „Lesesaal der Warburg-Bibliothek in Hamburg“, Akten und Papiere auf dem langen Konferenztisch im „Sitzungssaal der Gothaer Versicherung“ oder eine geöffnete Schranktür im „Alten Archiv in Lüneburg“ erzählen ebenfalls lebhaft von Menschen, die da waren oder noch erwartet werden. Die toten Dinge erwachen und werden zu Platzhaltern des Lebens.

Rolf Escher gestaltet seine Motive als Schauplätze und Lebensräume. Selbst dann, wenn keine offenbaren Spuren auf Akteure verweisen, spürt man in den Szenerien, die der Zeichner entworfen hat, eine Ahnung von Leben. Die Vitalität und Dynamik der Arbeiten entstehen vor allem durch das Licht, das Escher in die Bilder hereinholt, durch die Offenheit der Kompositionen und die Zuspitzung der Form. Doch darauf wird noch später einzugehen sein. Allerdings ist es nicht so, dass Escher die Menschen aus seiner zeichnerischen Welt total ausgespart hätte. Wir kennen aus seinem Frühwerk einige Arbeiten, in denen zwei alternde Schwestern in wechselnden Konstellationen fast stilllebenhaft dargestellt werden.

Daneben gibt es einige Porträtstudien, zu denen auch das gelegentliche Selbstporträt gehört. Ein beredtes Beispiel dafür ist die „Werkstattwand“ von 1978, in der Rolf Escher vorführt, wie das Eigentliche zum Beiläufigen werden kann. Erst im zweiten Anlauf entdeckt man das torsohafte Selbstporträt: Eine Spiegelscherbe fängt einen Teil des Kopfes und die zeichnende Hand von Escher ein. Es ist ein kleines Bild im Bild, das erst einmal ein Bekenntnis des Künstlers zu seiner Arbeit enthält. Er stellt sich als Zeichner vor und verweist zugleich durch die Gegenstände neben dem Spiegel sowie durch den rechts unten angeschnittenen Tisch, dass er auch ein Radierer ist. Auf diese Weise verdichtet sich die Komposition zu einem komplexen Künstlerbildnis, das sein zentrales Motiv aufspaltet und nur indirekt enthüllt.

Im Zentrum der Zeichnung steht nämlich das absolut Unbedeutende – eine leere Wand. Aber diese Leere gleicht dem Inneren eines Strudels, der die außerhalb der Mitte sichtbaren Dinge in sich hineinzieht. Der alte Verteilerkasten mit dem gefährlich wirkenden Leitungschaos, das Wandbord mit dem zerbrochenen Spiegel, dem Rahmen, den Radier-Utensilien und der Zeitung, der dahinter hängende Rahmen und die von der Decke hängende Glühbirne sowie der kleine Abrisskalender und der rechts unten stehende Tisch, der für die Druckwerkstatt steht, sie alle umkreisen die Leere. Das Selbstporträt wird somit Teil eines Stilllebens, in dem ebenfalls die Vergänglichkeit zum Thema wird. Die abgelegte Zeitung und der Kalender erinnern ebenso an die ablaufende Zeit wie der kaputte Spiegel, die abgeklemmten Kabel oder die Glühbirne, die nicht mehr brennt. Doch indem das Spiegelbild den Raum erweitert und den zeichnenden Künstler erkennen lässt, wird das Vergänglichkeitsmotiv relativiert. Der Verfall hat nicht das letzte Wort, sondern der Künstler, der sich mit ihm auseinander setzt. Somit dominiert das als Bild im Bild angelegte Selbstporträt die gesamte Komposition.

In den 80er- und 90er-Jahren schuf Rolf Escher eine Reihe von Zeichnungen und Druckgrafiken, in denen die Plätze und Räume wie selbstverständlich von Menschen belebt wurden. Allerdings entzogen sich die Leser in der Bibliothek und die Passanten auf den Straßen oder auf Plätzen dem konkreten, porträthaften Zugriff des Künstlers. Sie erschienen meist nur schemenhaft, brachten aber Bewegung in die Bilder. Selbst dann, wenn sie nur in Umrissen angedeutet oder als Schatten fixiert wurden, erweiterten sie die Bildsprache um ein entscheidendes Element. Diese Arbeiten betonten die „Flüchtigkeit des Augenblicks“ und besetzten somit eine Gegenposition zum Stillleben. Die Zeichnung „Frankfurter Hauptbahnhof, Halle“ von 1990 bekräftigt diesen Eindruck. Die Menschen, die in die Bahnhofshalle strömen oder aus ihr herausdrängen, erscheinen bloß als Schemen. Indem sie die Szene beleben, verflüchtigen sich die Gestalten. Gleichzeitig tragen sie dazu bei, das Bauwerk noch monumentaler, noch übermächtiger wirken zu lassen. Fast noch flüchtiger wirken die nur umrisshaft auftauchenden Gestalten in dem Blatt „Kaufhauseingang“. Vor einer schräg nach rechts wegkippenden barockisierten Hausfassade sieht man Köpfe und Oberkörper von Menschen im Gedränge. Allerdings zeigt sich beim näheren Studium, dass die Köpfe Gesichter haben, dass sich in der Flüchtigkeit der Szene Individuen entdecken lassen – hier ein Mann mit Hut und Brille, da aufgerissene Augen und dort eine spitze Nase oder ein offenes Lachen. Diese Ausdrucksvielfalt und Detailfreude in der nur skizzenhaften Anlage überraschen. Zudem hat der lavierende Pinsel die andere oder andere Gestalt im Hell-Dunkel-Wechselspiel hervorgehoben.

Die Faszination der Leere

Beim genauen Studium der Figuren wird plötzlich klar, dass die Menschen keine Unterkörper und Beine haben und auch dem Gebäude das Fundament fehlt. Alles schwebt im nach unten offenen Raum. Aber auch an den Seiten franst das Haus aus. Indem wir uns das verdeutlichen, merken wir, dass wir im ersten Hinschauen die Komposition als geschlossen und bis ins Detail ausgeführt empfunden haben.

Rolf Escher setzt auf diese Technik des Vollendens beim Betrachten seiner Bilder. Er liebt es, Formen an einzelnen Punkten so stark zu verdichten und fassbar zu machen, dass wir diesen Eindruck der Vollendung auch auf die Teile übertragen, die nur angerissen sind. In der Zeichnung des Geschäftshauses sind das Eingangsportal und die darüber liegenden Fenster so plastisch herausgearbeitet, dass sie die Verflüchtigungen zum rechten Rand hin überstrahlen. Ein Gegenstück zum Portal bildet die linke obere Fensterreihe, die ebenfalls komplettierend wirkt. Wie von selbst tritt das hervor, das dem Zeichner wichtig erscheint.

Rolf Escher ist ein Zeichner, der mit seinen Themen und Motiven intensiv arbeitet. Der vor Ort entstandenen Skizze können manchmal mehrere Studien folgen, bis die endgültige Zeichnung, Radierung oder Lithographie entsteht. Allerdings macht er bei der zeichnerischen Behandlung seiner Motive keine prinzipiellen Unterschiede zwischen der Ideenskizze, der Studie und der endgültigen Komposition. Das Skizzenhafte, das heißt die nur andeutende und das Thema umreißende Darstellung, ist nicht nur auf die zeichnerische Notiz oder den Entwurf beschränkt, sondern ist für ihn ein durchgängiges Gestaltungsprinzip. Insofern gelten die in der Literatur gern benutzten Merkmale zur Unterscheidung zwischen Entwurf und ausgeführter Handzeichnung für die Arbeiten von Rolf Escher nicht. Die Differenzen liegen in seinen Werken auf einer anderen Ebene – nämlich bei der Bearbeitung der Motive, der Zuspitzung von Eigenheiten. Der künstlerische Prozess bei Escher ist ein Prozess der Aneignung. Der Zeichner formt die Kompositionen nach seinem Bilde. Und indem er zu den Rändern hin vieles offen, im Ungewissen lässt, signalisiert er, dass das, was er der Wirklichkeit entnommen hat, nur Ausschnitte, Zitate sind, die er sich zu Diensten machte.
Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Glienicker Brücke in Berlin, die während der deutschen Teilung als Schicksalsbrücke galt. In dieser Zeichnung kommt die Brücke förmlich aus dem Nichts und führt ins Nichts. Sie ist aus ihrer Umgebung herausgelöst. Gleichwohl denkt man die sie umgebende Park- und Stadtlandschaft mit, weil die Brücke durch die perspektivische Schrägsicht in Beziehung zu einem undefinierten Raum gesetzt ist. Die eiserne Brücke ist an den linken Rand des Bildes gerückt. Die Leere auf der rechten Seite, die die Weite der Umgebung andeutet, wird nur durch einen erläuternden Text besetzt, der ein kompositorisches Gegengewicht zur Brücke bildet.

Aber selbst das Bauwerk, um das es ausschließlich geht, verliert sich nach unten und nach hinten im bloß Angedeuteten. Im Grunde interessieren den Zeichner nur die Sockel mit ihren plastischen Bildwerken, die eine Art Eingangstor bilden, und die Konstruktion des ersten Brückenbogens. Der zweite braucht gar nicht voll ausgeführt zu werden, weil wir ihn unaufgefordert hinzudenken.

Casino Zeche Zollverein Atelier Susanne Kessler Prophet im Chorgestühl Spiegel in der Bibliothek Friedrichs II.

Auch in der Zeichnung „Casino Zeche Zollverein“ ist der Kontrast zwischen kraftvoller Verdichtung und sich verflüchtigender Zeichnung stark. Die Rohre, die sich unter der Decke winden und auch nach unten führen sind neben den fensterähnlichen Einbuchtungen die prägenden Elemente der Zeichnung, Die Rohre, die wie ein Nachhall auf die barocken Architekturbögen und –wülste erscheinen, prägen das Bild. Die Caféhaus-Stühle hingegen, die sonst Eschers volle Konzentration und Detailliebe herausfordern, werden in ihrer eleganten Form nur knapp umrissen. Noch stärker verlieren sich die Tischplatten im Ungewissen. Natürlich hat das auch mit dem starken Seitenlicht zu tun. Entscheidend jedoch ist, dass die Akzente eindeutig gesetzt sind und aus der Schwere eine Leichtigkeit entsteht.

Man ist versucht, diesen Hang zum Fragmentarischen mit der Brüchigkeit der Moderne in Verbindung zu bringen. Das ist nicht abwegig, da der Zugang zu dem ganzheitlichen, unbeschädigten Bild beschwerlich bis unmöglich geworden ist. Wichtiger erscheint mir aber, dass Rolf Escher sich mit dieser Technik in eine große Tradition stellt. In den Zeichnungen und Radierungen Rembrandts, in denen es um Aspekte der Landschaft geht, sind zuweilen ganz ähnliche Arbeitsweisen zu entdecken. Auch der Niederländer liebte das Wechselspiel zwischen Verdichtung und Offenheit sowie das Herausnehmen eines Motivs aus der Umgebung.

Das Spiel mit der Leere ist aber nicht immer als ein Herauslösen aus dem Zusammenhang zu sehen. In dem Pavillon-Bild aus dem Schlosspark Glienicke ist die untere Hälfte des Blattes leer geblieben. Allein im Übergangsbereich hat der lavierende Pinsel einen Streifen eingefärbt, so dass man weiß, dass die Landschaft nicht an den zwei Bleistiftlinien, die unterhalb des Pavillons gezogen sind, endet. Die leere Fläche öffnet den Raum. Sie zeigt auf, aus welcher Distanz der Pavillon gezeichnet wurde und zu sehen ist. Das ist nicht die einzige Sonderheit des Blattes. Genauso ungewöhnlich für Eschers Schaffen ist die Behandlung des Hintergrunds. Die Bäume, die hinter dem Pavillon stehen, verdichten sich zum undurchdringlichen Herbstwald mit brauen und bläulichen Farben. Die lavierende Tusche, die sonst nur Motivteile heraushebt, atmosphärisch verdichtet oder Schattenzonen markiert, verselbständigt sich hier zu einer eigenständigen malerischen Kraft. Und so leer die untere Hälfte ist, so geschlossen ist die Einfärbung des Hintergrunds. Hier meldet die Malerei Ansprüche an.

Die offene Zeichnung, in der die Nähe zur Skizze zu spüren ist, zeichnet Eschers Werk aus. Hingegen sind die Blätter, die geschlossen und im üblichen Sinne bis ins Letzte ausgeführt wirken, an den Fingern abzuzählen. Das eingangs beschriebene „Wuppertaler Fenster“ zählt zu diesen Ausnahmen. Noch strenger ausgearbeitet und undurchdringlicher erscheint das Treppenhaus mit der offenen Tür, an der der Bademantel hängt. Das Blatt ist auch insofern ungewöhnlich, als Escher hier mit einem gleichmäßig disziplinierten Stift jede Treppenstufe und jeden Wandabschnitt fein herausgearbeitet hat, um das düstere Treppenhaus in seiner Klarheit zur Anschauung zu bringen und exakt die Lichtzonen in ihren vielfachen Abstufungen zu akzentuieren.

Das Erwachen der Figuren

Seit Rolf Escher Anfang der 70er-Jahre systematisch zu zeichnen begann, wandte er sich bevorzugt der unbelebten Natur zu. Stillleben standen für etliche Jahre im Vordergrund, dann weitete sich der Blick, Innen- und Außenräume kamen hinzu, die in der Regel verlassen waren, also ohne Menschen auskommen mussten. Doch von Anbeginn zeichneten sich Eschers Bilder dadurch aus, dass sie die toten Dinge zum Sprechen brachten. Der Hummer auf dem Schrank schien zu lauern, die Stühle formierten sich zur Gesellschaft, und die geöffneten Taschen fingen an zu plaudern. Kurz, die Dinge der Menschen nahmen die Räume derart intensiv in Beschlag, dass sie selbst wie lebendig wirkten.

Mit besonderer Hingabe wandte sich Rolf Escher auf seinen zeichnerischen Studienreisen den Büsten und bauplastischen Figuren zu, die alles das machen dürfen, was den Menschen in Eschers Zeichnungen untersagt ist. Während die Wesen aus Fleisch und Blut, wie beschrieben, wenn überhaupt, dann nur flüchtig und kaum fassbar erscheinen, gewinnen die steinernen und hölzernen Gesichter und Gestalten Volumen und Ausdruck. In etlichen Blättern haucht Escher ihnen so viel Lebenskraft ein, dass man glaubt, sie würden im Raum agieren. Am weitesten ging Escher in der Zeichnung der Bibliothek von Sanssouci. Man kann kaum unterscheiden, ob im Bildvordergrund eine mit Leben erfüllte Raumplastik oder ein richtiger pickender Raubvogel zu sehen ist. Kurios wird die Komposition dadurch, dass die Szene mit dem Vogel, der unter sich ein Gerippe hat, zeichnerisch wild und zerrupft wirkt, während die Wand im Hintergrund im Vergleich dazu ruhig und geglättet aussieht.

Ähnlich dramatisch tritt die Figur an der „Kanzel der Klosterkirche in Rottenbuch“ hervor. Man glaubt, da würde ein Mädchen (ein Engel) an der Kanzel hängen und den linken Arm ausstrecken, um etwas fassen zu bekommen. Die Figur ist lebendiger und körperlich greifbarer als mancher Leser, den Escher in eine Bibliothek gesetzt hat. So wird mit leiser Ironie die Welt auf den Kopf gestellt. Zugespitzt wird die Szene dadurch, dass sich der Zeichner ausschließlich auf die Kanzel und den darüber schwebenden Baldachin sowie den tragenden Pfeiler und Bogen konzentriert, während die Weite des Kirchenraumes nur zu erahnen ist. Vergleichbares gilt für die Figuren an den Prunkschlitten, die Escher im Marstallmuseum in München entdeckt hat.

Die sich selbst überlassenen Räume und die ihnen zugehörigen Objekte und Plastiken entwickeln ihr Eigenleben, und Rolf Escher hält es fest. Der „Prophet im Chorgestühl“ aus der Stadtkirche Geislingen bleibt zwar eine Figur aus Holz, aber sie gewinnt eine solche Präsenz, dass sie wie ein andächtiger Prediger wirkt.

Vor allem im Barockzeitalter wurden mit großer Lust in die Prachtentfaltung der diesseitigen Architektur Totenschädel und Skelette eingearbeitet, um an die Endlichkeit des Lebens zu gemahnen. Der sich oft unerkannt und in vielerlei Gestalt einschleichende Tod gewann auf makabre Weise Form. Und indem er zum kumpelhaften Gevatter wurde, zum anscheinend lebendigen Wesen, vollzog sich die Umkehrung: Der Bote, der das endgültige Ende des Lebens verkündete, ist als Personifikation des Todes höchst lebendig. Vergleichsweise harmlos und gesittet treten die Todesboten in der Überzeichnung des Lübecker Totentanzes auf. Sie wirken dank ihrer Hüte wie Richter, die zu einem Urteilsspruch auftreten. In der „Mannlich-Gruft“ hingegen erleben wir den Tod in seiner grausamen Gestalt. Der Schädel ist zu einer von Krankheit gezeichneten Grimasse verzerrt. Und mit besitzergreifender Geste umklammert die Knochenhand ein Kind, das entgeistert seine Arme hebt.

Der Tod ist in diesen Bildern lebendiger als einige Menschen, die man in anderen Arbeiten sieht. Rolf Escher gelingt es, die Situation zuzuspitzen und damit die Verhältnisse umzukehren. Drastisch wird das noch einmal in der Zeichnung „Prunksarkophag der Königin Sophie-Charlotte“: Mit dem Sarkophag im Rücken sitzt der in einen weiten Umhang gehüllte Tod auf den Boden und schreibt in das Buch des Lebens. Die Zeichnung verlebendigt das, was nicht mehr lebt. Zudem entfaltet sie durch die Kombination von Graphit und Schwarzkreide auf blauem Papier eine magische Wirkung. Die Düsternis der Gruft steigert die Lebendigkeit der Figuren: Rolf Escher spielt mit dem Vergänglichkeitsmotiv. Aus dem Zeichner, der den Tod beschwört, schaut der Schalk heraus.

Schwünge, Bögen und Kuppeln

Unverkennbar ist die Lust des Zeichners an den runden Formen, an den Schwüngen der Treppen, den Bögen der Gewölbe und den Kuppeln, die weite Hallen fürstlich krönen. Die Arkaden und barocken Säle werden ebenso zum Faszinosum wie der weit ausgreifende Bogen der Müngstener Brücke oder der sich krümmenden Rohre in der Zeche Zollverein. Diese gelegentliche Gleichsetzung von historischer Kirchen- und Palastarchitektur und neuzeitlicher Industriekultur überrascht im ersten Moment, ist aber stimmig. Gleichwohl fragt man sich, wie die Auswahl zustande kommt.

Blickt man auf Eschers Ausstellungen und auf seine Kataloge zurück, dann wird nur gelegentlich eine Systematik sichtbar. Die „Schauplätze“ (1984) und „In Venedig gezeichnet“ (1997) widmeten sich Italien und vorwiegend Venedig. Dann gab es die „Frankfurter Fundstücke“ (1991) und die „Bücherzeiten“ (2000) mit den Bibliotheksräumen. Zu diesen geographisch und thematisch geordneten Werkkomplexen sind die „Erinnerungsräume“(1994) zu rechnen, auch wenn sie räumlich nicht so klar einzuordnen waren.

Natürlich bergen die italienischen und insbesondere venezianischen Motive besondere Verlockungen. Nicht nur deshalb, weil einzelne Gassen, Fassaden oder Mauernischen etwas in uns zum Klingen bringen, was wir sonst nicht wahrnehmen, sondern auch deshalb, weil in Bewunderung der Lagunenstadt sich so viele Künstler schon ausprobiert und Maßstäbe gesetzt haben. Für Rolf Escher sind diese Erinnerungen an die Vorgänger und Vorbilder keine Last. Im Gegenteil, er sucht bewusst die Reibung an den historischen Vorbildern, um seine Position zu finden, denn Escher gehört zu den Künstlern, die die Kunstgeschichte im Kopf haben und im Wissen um das, was gezeichnet und gedruckt worden ist, ihren Standort suchen .

Doch wenn man von den Italienbildern spricht, dann muss man wissen, dass sie in den seltensten Fällen nur das spiegeln, was wir normalerweise aus den Städten kennen. Rolf Escher wandert nicht die Sehenswürdigkeiten ab. Nun gut, die Kuppeln und Türme von San Marco und die Arkaden vom Café Florian tauchen auch auf. Aber sonst lernt man Einblicke und Ansichten kennen, von denen man nichts oder nur wenig weiß und die sich dem gewöhnlichen Touristenblick entziehen.

Was ist es denn, was den Zeichner herausfordert, inne zu halten, sich in einer schnellen Skizze Notizen zu machen oder ganz anachronistisch sich im Getriebe der Stadt auf einen Hocker zu setzen, um Eindrücke festzuhalten – von einem Platz oder dem Teil einer Fassade oder nur von einem hervorspringenden Bogen ? Mal ist es die üppige, sich selbst übersteigernde Form, dann wieder ist es die Schlichtheit des Raumes oder die Eleganz eines Stuhls, dessen Kissen sich auflöst.

Mit Vorliebe studiert Rolf Escher die Objekte und Räume, deren Oberflächen von Lebensspuren gezeichnet sind, denen man ihr Alter ansieht, den Gebrauch und die Abnutzung. Eben diese Vorliebe für das Wechselspiel von Formenreichtum und Alterung kennzeichnet Eschers Werk von Anfang an. Wenn man weiß, dass das so ist, dann wundert auch nicht, dass er sich als Zeichner für gewöhnliche Tordurchfahrten, schäbige Industriebauten und ins Leere führende Treppenhäuser genauso begeistern kann wie für die Fassaden der Palazzi oder die italienischen Zeitungskioske. Diese Offenheit, dem Gewöhnlichen in der Industrielandschaft genauso viel Aufmerksamkeit zu schenken wie der großartigen venezianischen Architektur, lässt die Frage unwichtig werden, nach welchen Grundsätzen er die verschiedenen Landschaften und Städte erkundet hat. Nach Oberitalien und Venedig fuhr er gezielt, auch in die historischen Bibliotheken oder nach Frankfurt. Aber wofür er sich ansonsten entschied, war eher vom Zufall gesteuert.

Rolf Escher will greifbar machen und bewahren, was von der Vergänglichkeit bedroht ist. Manchmal tritt diese Vergänglichkeit in Form einer Modernisierung auf. Der Zeichner ist alles andere als ein Ästhet des Verfalls. Doch die ehrwürdigen Barockbauten oder verspielten Gründerzeitfassaden faszinieren ihn nur dann, wenn sie ihr Alter bezeugen. Deshalb hätte er zehn, fünfzehn Jahre später in den ostdeutschen Ländern kaum noch das gezeichnet, was ihn Anfang der 90er-Jahre faszinierte. Zu vieles war durch überperfektionierte Restaurierung zu glatt und unhistorisch geworden.

Bisweilen sieht Escher durch die Objekte und Bauten förmlich hindurch. Unter der glatten Oberfläche ahnt er die Spuren des Verfalls und das sich andeutende Chaos. Manchmal entwickelt sich dieser zuspitzende, seherische Blick erst in der wiederholten Aufarbeitung des Themas – von der Skizze über die Studie hin zur Zeichnung oder Grafik. Was vorher gerade war, konnte sich unter der Last des Alters oder dem Druck des Windes beugen. Rolf Escher hat diesen Zug zur Umformung schon von Anbeginn in sich gehabt. Noch bevor er systematisch künstlerisch zu arbeiten begann, als er gerade ein 18-jähriger Schüler war, pflegte er diesen eigenwilligen Umgang mit der Realität, wie seine Zeichnung und die dazu gehörige Radierung aus Baden-Baden zeigen: Die Konzentration auf das Wesentliche, das Herauslösen des Motivs aus seiner Umgebung und die Verflüchtigung der Zeichnung zu den Rändern hin waren da schon angelegt. Dabei vergingen ein Dutzend Jahre, bis der Zeichner und Grafiker diesen frühen Ansatz wieder aufnahm.

Deshalb ergeben die Deutschlandbilder, die Escher im Laufe von fast 30 Jahren zusammengetragen hat, kein geschlossenes Bild. Der Band taugt schon deshalb nicht zum Reiseführer, weil die Gewichte ungleich verteilt sind und viele Ansichten, die man erwartet, verweigert werden. Aber selbst dann, wenn Escher alle Sehenswürdigkeiten berücksichtigt hätte, wäre er für diejenigen, die stets nur die stadtbekannten Attraktionen suchen, nicht zum verlässlichen Führer geworden, weil ihn eher das fasziniert, was am Rande liegt, aber die Atmosphäre eines Raumes bestimmt. Die weiße Scheibe, durch die man nichts sieht, in der sich aber die Kraft des Lichtes sammelt, die Säulengruppe, auf deren Rückseite sich die Schatten treffen und zur Schwärze verdichten oder die auseinander strebenden Treppen, die dem Raum Dynamik verleihen, sind die Dinge, die den Motiven Atmosphäre und Vitalität verleihen.

Die Farbigkeit der Zeichnung

Es ist unmöglich, über Rolf Eschers Zeichnungen zu sprechen, ohne auf deren Farbigkeit einzugehen. Natürlich sind die Arbeiten in der Grundanlage schwarz-weiß. Bleistift, Graphit oder Tuschefeder sind die Konstanten für den Aufbau der Zeichnung. Manche Partien werden nur flüchtig umrissen, an anderen Stellen verdichten sich die Striche und Schraffuren zur Schwärze, um eine Figur, eine Treppenbiegung oder eine Schattenzone herauszuarbeiten. Allerdings gehörte es von Anfang an zur Methodik des Zeichners, wechselnde Papiere auszusuchen. Mal entschied er sich für weiße glatte Oberfläche, über die der Stift und die Feder behände gleiten können, dann wieder wählte er strukturierte Blätter, die einen Widerstand bilden, dafür aber schon einen gestalteten Grund anbieten. In gleicher Weise erweiterte er die Ausdrucksmöglichkeiten dadurch, dass er unterschiedlich getönte Papiere nutzte. Insbesondere die grünlichen, gelblichen und bräunlichen Papiere kamen Escher dann entgegen, wenn er alternde Dinge und Räume beschwor. Zudem entstand durch die getönten Papiere eine Atmosphäre, aus der räumliche Zusammenhänge entstehen.

Zu Beginn der 80er-Jahre allerdings ging Rolf Escher dazu über, in seinen Zeichnungen systematisch die Farbe einzusetzen . In einigen Arbeiten setzte er nur leicht kolorierend den Farbstift ein, um die Stofflichkeit der Oberflächen zu verstärken. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die Koffer in der Zeichnung „Reiseerinnerungen (Die Wartenden)“, wobei in dem Bild dadurch eine eigenwillige Spannung entsteht, dass nur die vorderen Koffer farbig gefasst sind, die hinteren also schwarz-weiß und somit skizzenhaft bleiben. In anderen Kompositionen zeichnete er mit brauner Tusche und gewann dadurch eine eindringliche plastische Wirkung, aber auch eine gelegentliche Verfremdung.

Aber erst durch die Einbeziehung des Aquarells, der Lavierung und der Weißhöhung in die Zeichnung hatte sich Rolf Escher jenen gestalterischen Freiraum erobert, der ihm die unterschiedlichsten Arbeitsweisen ermöglicht. Anders als der Farbstift unterstützen die Lavierung und die transparente Aquarellschicht nicht unbedingt die Hauptelemente der Zeichnung. Gewiss, manchmal ordnet sich die mit dem Pinsel aufgetragene Farbe der Zeichnung unter, um eine Form zu bekräftigen oder einen Schatten zu verdeutlichen. Aber sehr oft entfaltet das Aquarell eine eigenständige Kraft, so dass ihm Bild eine zweite Ebene entsteht, die manches von dem, was die Zeichnung behauptet, zurücknimmt oder in Frage stellt. Nachzuvollziehen ist das an der Zeichnung „Epitaph am Frankfurter Dom“: Mit dem Bleistift ist eine Reliefbüste, insbesondere der Kopf, der Umhang und die Hände, plastisch herausgearbeitet. Zu den Rändern hin verläuft die Zeichnung ins Ungefähre. Das darüber gelegte Aquarell steigert die Plastizität, indem es den Schattenbereich markiert. Doch auf der rechten Seite gibt das Aquarell seine dienende Rolle auf. Denn die gelbliche Einfärbung bricht plötzlich ab. Es bildet sich ein Gegenakzent, der die Illusionsebene zerstört und das Fragmentarische, die Offenheit also, betont.
In: Spuren nach Innen, Herne 2007

Copyright der Bilder: Rolf Escher

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