Im Gezeitenraum

10 Anmerkungen zum Werk von Gabriele Grosse

Gegenstand und freie Form. Die Kunst bewegt sich in unserem Jahrhundert zwischen den beiden Polen Gegenständlichkeit und freier, nicht abbildender Form. Gabriele Grosse vereint die Gegensätze in ihrem Werk. Immer bleibt sie dem Gegenstand, der in der Natur entdeckten Form verpflichtet, studiert ihn mit größter Genauigkeit und setzt ihn in ihre Bilder um. Gleichzeitig entwickelt sie nach ihren eigenen Vorstellungen strenge Strukturen, die sie dem Natürlichen entgegenstellt. In der dargestellten Form verdichtet sich die Komposition, entsteht ein Energiezentrum.
Mikrokosmos und Makrokosmos. Aus zwei Quellen der Natur schöpft Gabriele Grosse. Die eine ist die der Insekten, die für das frühe Werk bestimmend war. Die andere ist die Landschaft, vorzüglich das Küstengebiet, das Watt. Die Beine, Flügel und Fühler der Insekten, die Medusen und die Spuren des ablaufenden Wassers im Sand: Es ist der Mikrokosmos, dem sich Gabriele Grosse zuwendet, es sind die kleinen und zerbrechlichen Gebilde. Insekten und Gezeitenraum – zwei extrem scheinende Welten mit Formen, die, wie Grosses Bilder zeigen, aus einem Prinzip kommen, die unmittelbar ineinander übergehen. Die Künstlerin bringt sie zusammen. Und in der Nahsicht auf das Watt legt sie Strukturen frei, die der Gesamtlandschaft aus der Fernsicht gleichen. Die kleine Welt birgt in sich die große.
Erzählung und Improvisation. Warum entstehen die Bilder? Weil Gabriele Grosse etwas mitzuteilen, zu erzählen hat und weil sie zugleich Freude hat an der Durchgestaltung einer Fläche, an der Entfaltung der zeichnerischen und malerischen Möglichkeiten. Dass man von Erzählungen reden darf, verraten die Titel, die sich in dem Spannungsfeld von bloßer Benennung oder wissenschaftlicher Bezeichnung und literarischem Code bewegen. Von der Sachlichkeit zur ironischen Pointe ist es ein kurzer Weg. Die Erzählung bildet den Kern der Komposition; ihn umschließt die küstlerische Improvisation.
Linie und Fläche. Punkte, sanfte Striche, Zarte Linien und Schraffuren. Körperpartien verdichten sich oder Schattenzonen im Watt. Nervöse Linien breiten sich wie Adern oder Wurzeln aus. Aus diesen zeichnerischen Elementen baut sich das Motiv auf – anatomisch oder topographisch exakt. Aber fast immer bleibt das, was zu sehen ist, ausschnitthaft und Torso. Es wird herausgelöst aus seiner Umgebung, wird in seiner Gegenständlichkeit abstrakt. Und es wird umfangen von Koordinaten und Rasterlinien, von Kreissegmenten. Sie geben Halt und wenden das Anekdotische ins Allgemeine. Gegensätze stoßen aufeinander – das organisch Wuchernde und das mathematisch Analysierende. Die Natur im Labor – die Linien- und Zahlenreihen täuschen Berechnung vor. Doch unerwartet entsteht in den Gezeitenbildern eine Verbindung zu einer anderen, aus dem Alltag vertrauten Bilderwelt: Die Koordinaten und Zahlen, die die Wattlinien umfangen, lassen Erinnerungen an Seekarten wach werden.
Zentrum und Rand. Nur selten entwickelt sich die Zeichnung im Zentrum. Meist ist sie nach oben oder unten verschoben. Und häufig konzentriert sie sich auf eine kleine Fläche. Um das Zentralmotiv herum laufen die Linien in die Leere aus. Zu den Rändern hin bestimmt Offenheit die Kompositionen. Aus der ungestalteten Weite beziehen die Motive ihre Kraft. Offenheit und Leere verstärken die Isolation des Motivs und das Torsohafte.
Farbe und Spur. Die Zeichnung bildet die Grundlage und das Gerüst einer Komposition. Aber erst die Farbe öffnet die Fläche zum Raum, gibt den Bildern Zwischentöne und Vielstimmigkeit. Sehr schnell hat sich Gabriele Grosse von den intensiven, kraftvollen Farben verabschiedet. Sie sucht die Nuancen, die feinen Töne. Mit asiatischer Meisterschaft (das heißt mit konzentrierter Leichtigkeit) bannt sie Farbwolken aufs Papier. Es ist manchmal, als ob die Farbe auf eine letzte verräterische Spur reduziert würde. Eine Ahnung von Farbe – zart und hingehaucht und im Kontrast zu den mit Schwärze durchsetzten Körper- oder Schattenpartien.
Zeichnung und Malerei. Gabriele Grosse zeichnet und stellt Radierungen her, sie malt Aquarelle und produziert Tapisserien. Die Zeichnerin weist der Malerin den Weg, und die Malerin verhilft der Zeichnerin zur Leichtigkeit. Die eine Technik bedingt die andere, jede profitiert von den anderen. Das Zeichnerische wirkt wie das Ursprüngliche, doch das Malerische ist das Eigentliche.
Faden und Pinsel. Das Besondere am Werk von Gabriele Grosse ist, dass ihre großen Arbeiten Tapisserien sind und keine Gemälde. Trotzdem ist sie als Malerin zu verstehen. Sie betreibt die Malerei mit anderen Mitteln. Die Arbeit am Hautelissewebstuhl schließt sich unmittelbar an Gabriele Grosses Aquarellkunst an. Es ist lediglich eine Arbeit nach anderen Prinzipien: An die Stelle der nassen und unterschiedlich konsistenten Farben, die aufgetragen werden, treten Fäden aus Wolle, Baumwolle und Leinen, die zusammengeführt werden. Natürlich kann die Weberin sich beim Aufbau der Komposition auch spontan vorgehen, aber ihre Grundentscheidungen muss sie lange vorher getroffen haben: Die Farbfäden müssen in den richtigen Einfärbungen und Mengen bestellt werden. Dafür kann dann beim Aufbau von gleichartigen Eintönungen an unterschiedlichen Stellen die Weberin sicher sein, dass sie stets exakt den gleichen Ton trifft. Bis ins Detail wird alles plan- und kontrollierbar. Das gewebte Bild entsteht vor der 1:1-Vorzeichnung, und die Codezahlen für Farbwerte auf der Vorlage stellen die Verbindung her zu den Ordnungssystemen, die Gabriele Grosse in ihre Kompositionen einbezieht. Entscheidender Unterschied aber ist, dass die Malerin die Farbe auf die Leinwand aufträgt, während die Weberin entlang der gespannten Kette den Malgrund mit der Komposition gleichzeitig erschaffen muss. Dabei verlangen die motivarmen und farblosen Flächen die gleiche Materialpräsenz wie die Kernzonen. Auch die leere Zone muss gestaltet werden.
Fläche und Raum. Die Arbeit im Webstuhl vollzieht sich im Raum. Die Tapisserie hat Objektcharakter. Aber Gabriele Grosse betont die Bildhaftigkeit, indem sie die Tapisserien wie Leinwände in Rahmen spannt. Durch diese Spannung wiederum wird der Materialcharakter bewusst gemacht – die Öffnung zum Raum hin. So akzentuiert sie gelegentlich Linien und Formteile, indem sie Schlitze stehen lässt, durch die das Licht oder Dunkel treten können. Die Bilder öffnen sich nicht nur zu den Rändern hin, sondern auch zum Raum.
Zartheit und Poesie. Viele Bilder von Gabriele Grosse künden von Energie und Kraft. Nicht nur die großen Tapisserien sind monumental, auch die kleinen Kompositionen. Doch sie alle sind von großer Zartheit. Die Linien und Farben wirken oft nur wie ein Widerschein. Und sie sind von bestechender Poesie. Gabriele Grosse hat eine eigene, faszinierende Ästhetik entwickelt.
Kunst im Alten Spritzenhaus, Bahlingen, 31. 8. 1997

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