Meine sehr verehrten Damen und Herren,
für viele von Ihnen wird dies eine ungewöhnliche Ausstellung sein. Ungewöhnlich vor allem deshalb, weil die Hauptwerke der Düsseldorfer Künstlerin Gabriele Grosse Tapisserien sind und weil es ansonsten in Deutschland aber nur wenige Künstlerinnen und Künstler gibt, die sich diesem Medium verschrieben haben. Den meisten fehlt daher die Erfahrung im Umgang mit den Eigengesetzlichkeiten und Qualitäten der Tapisserie. Der Kunstmarkt, auf dem die Bildteppiche gern dem Bereich des Kunsthandwerks zugeordnet werden, tut ein Übriges, um die Auseinandersetzung mit diesem Medium zu erschweren.
Dabei liegt diese Technik gar nicht so fern, denn die Nähe zur Malerei ist groß. Für mich sind die Tapisserien textile Gemälde, die mit anderen Mitteln hergestellt werden. Die Tatsache, dass die Bilder auf einen Keilrahmen gespannt und meist von einem Rahmen eingefasst sind, verstärkt diesen Charakter. Allerdings gibt es zwei fundamentale Unterschiede zur Malerei: Zur Eigenart der Tapisserien gehört, dass es keinen Untergrund gibt, auf den die Komposition aufgetragen werden könnte. Entlang der im Webstuhl gespannten Kette entstehen Bildgrund und Motiv gleichzeitig in nur einem Arbeitsvorgang. Auch wenn die fertige Tapisserie so wirkt, als seien die Linien und farbigen Felder auf die Fläche projiziert worden, haben wir es mit nur einer Ebene zu tun. Das bedeutet andererseits, dass diese Technik immer eine Nähe zum Plastischen hat. Die textile Fläche wächst als Bildkörper heran. Gabriele Grosse aktiviert diesen Aspekt, indem sie in die Kompositionen Schlitz-Strukturen einarbeitet, die wie schwarze Linien erscheinen und einen Bezug zum Raum herstellen: Die Fläche wird durch die Schlitze aufgebrochen, Tiefe entsteht.
Der andere große Unterschied zur Malerei liegt in der Natur der Arbeitstechnik. Der Maler trägt mit dem Pinsel oder Spachtel die Farbe schichtweise auf und lässt möglicherweise die Farben verlaufen. Spezielle, kaum wiederholbare Effekte entstehen, wenn sich die nassen Farben mischen. In der Tapisserie gibt es solche unkontrollierbaren Zufälligkeiten nicht. Sobald die Idee für eine textile Komposition geboren ist, müssen die Fäden aus Wolle, Baumwolle und Leinen in dem gewünschten Farbspektrum ausgesucht und bestellt werden. Sie können beim Weben so vielseitig gemischt werden, dass mehrere tausend Farbtöne verfügbar werden. Aber jeder Farbton ist, wenn die Mischung der Fäden notiert ist, exakt wiederholbar. Also kann Gabriele Grosse, wenn sie die Kombinationen der Farbfäden auf dem Karton mit der 1:1-Vorzeichnung durch Code-Zahlen kenntlich gemacht hat , den gleichen Farbton an jeder anderen Stelle wieder aufnehmen. Dadurch wird ein äußerst kontrollierbare Arbeitsweise möglich. Sie schließt aber keineswegs die Spontaneität aus. Jederzeit kann sich die Künstlerin, wenn sie selbst am Webstuhl arbeitet, auf die sich herausbildende Komposition reagieren und von der Vorlage abweichen.
Bereits während ihres Studiums hat Gabriele Grosse bei Joseph Fassbender die Kunst der Tapisserie schätzen und lieben gelernt. Damals hat sie diese Technik zu ihrer eigenen gemacht. Dabei war es ihr bald gelungen, eine unverwechselbare Bildsprache zu entwickeln. Zu der gehört bis heute ein doppeltes Spannungsverhältnis:
Gabriele Grosse hat eine unbändige Lust am Erzählerischen. Aus der Welt des Mikrokosmos greift sie Formen auf (anfangs war das die Welt der Insekten, später kamen die Elemente des Wattenmeeres hinzu). Sie zergliedert die Formen, spielt mit ihnen, stellt sie in neue Zusammenhänge und lässt dadurch Ansätze von Geschichten entstehen. Hier sieht man einen Wasserstrom oder eine spritzende Welle, dort glaubt man eine Küstenzone zu erkennen und da ragen Käferzangen oder ein Insektenkörper ins Bild. Wir als Betrachter folgen diesen Ansätzen, knüpfen an die konkreten Formen Erinnerungen und Gedankenverbindungen, sind aber nicht dazu in der Lage, sie zu ihrem logischen Ende zu führen oder zu entschlüsseln. Denn genauso stark wie der erzählerische Impuls ist der gestalterische, dem es um das freie Spiel der Linien, Flächen und Farben geht. So werden wir durch die organischen und landschaftlichen Formen eingefangen, um jenseits des Gegenständlichen das rein Kompositorische wahr zu nehmen. Es ist, als würde man ins Leere fassen, wenn man sich an den greifbaren Formen festhalten will. Und doch glaubt man immer wieder zu ahnen, man könne sich in dieser geheimnisvollen Welt zurechtfinden.
Verstärkt wird dieser Eindruck durch ein anderes Spannungsverhältnis: Die eigenwilligen Formen des Natürlichen werden in den meisten Kompositionen durch geometrisch-konstruktive Elemente Geraden, Parallelen, Kreise, Ellipsen oder Schraffuren aufgefangen, diszipliniert und kommentiert. Die Welt des Rationalen durchdringt den Kosmos der Insekten, Quallen und Gezeitenspuren. Aus der Gegensätzlichkeit ergibt sich eine rätselhafte Harmonie, in der alles in der Schwebe bleibt. Mal dominiert stärker das Geometrische wie in der Insektenbelustigung V, in der ein Koordinatenkreuz den Ton angibt. Dann wieder herrschen die der Natur entlehnten Linien vor wie in Fermata.
Gabriele Grosse hat ihr Werk mit großer Konsequenz entwickelt und ist dabei ihrer Haltung und den Grundansätzen treu geblieben. Sie hat sich aber stets eine große Offenheit bewahrt, die es ihr immer wieder ermöglichte, neue Felder zu betreten. Der wohl wichtigste Schritt erfolgte relativ früh, als sich die Künstlerin entschied, von den stark farbigen, bis an den Rand mit Motiven gefüllten Bildräumen abzugehen. Gefördert wurde diese Entscheidung dadurch, dass sich Gabriele Grosse außerhalb der Arbeit am Webstuhl auch systematisch der Zeichnung und dem Aquarell zuwandte. Der Geist des Aquarells verhalf den Tapisserien zu jener poetischen Kraft und Leichtigkeit, die sie das Stoffliche überwinden lassen.
Ebenso nachhaltig wirkte sich aus, dass Gabriele Grosse ab Ende der 70er-Jahre regelmäßig zum Studium der Natur und zum Arbeiten ans Wattenmeer an der Nordseeküste fuhr. Diese sich ständig verändernde Landschaft, in der durch das ab- und zufließende Wasser und den Wind alles in Bewegung ist und die Formationen einer dauernden Metamorphose unterworfen sind, bescherte nicht nur neue Motive, sondern förderte auch die Ablösung der Motive von der Fläche.
Ich habe eingangs davon gesprochen, dass am Webstuhl entlang der Kette Bildgrund und Motiv gleichzeitig und gleichwertig aufgebaut werden. Das heißt: Der ungestaltete Bildgrund und der von mehreren Motivsträngen und Farben geprägte Motivbereich sind gleich wichtig und liegen auf einer Ebene. Gleichwohl zeichnen sich die meisten Tapisserien der jüngsten Zeit dadurch aus, dass die sich plastisch herausbildenden Motivzonen über den Grundflächen zu schweben sein. Schattenlinien und zonen sowie Durchdringungen und Überlagerungen sorgen für Lebendigkeit und räumliche Tiefe. Sie sind zwar mit der Grundfläche unmittelbar verwoben und doch vermittelt das innere Auge den Eindruck, als sei die Komposition drauf gesetzt.
Diese Wirkung hat mehrere Ursachen. Zum einen ist Gabriele Grosse schon in den 70er-Jahren dazu übergegangen, ihre Kompositionen offener anzulegen; in vielen Arbeiten gibt es zu den Rändern hin Leerräume. Auch in sich selbst sind sie durchlässiger, leichter und plastischer geworden. Unglaublich feine Farbdifferenzierungen sorgen für immer neue Klänge und Harmonien. Und schließlich ist nicht zu unterschätzen, dass das Wattenmeer den sandfarbenen Untergründen und den durchscheinenden Blautönen zum Siegszug verhalf. Entscheidend ist, dass die Formen zu fließen und zu schweben scheinen. Wir bewegen uns in einer Welt, in der wir von vertrauten Elementen umgeben sind, in der die Dinge schwerelos wirken und in der uns der Sog des Poetischen erfasst.
Gabriele Grosse hat die unmittelbare Auseinandersetzung mit der von den Gezeiten geprägten Landschaft für sich abgeschlossen. Allerdings arbeitet sie in diesen und den kommenden Monaten an einem Projekt, das zum krönenden Abschluss dieses Themas werden könnte. Für das Kreishaus in Husum arbeitet sie an einer dreiteiligen Tapisserie (Gezeitensaum Marin), die insgesamt 3,10 Meter hoch und 6,44 Meter breit werden wird und die Kopfwand eines Saales gestalten soll. In dieser großen Wandarbeit werden noch einmal die plastischen Formen der Küste und die blauen Töne des Himmels und des Wassers vorherrschen. Schon früher hat sie größere Tapisserien für öffentliche Gebäude angefertigt unter anderem eine Wand für das neue Rathaus in Göttingen.
Von den Aquarellen war schon kurz die Rede. Sie bilden den zweiten Schwerpunkt im Schaffen von Gabriele Grosse und in dieser Ausstellung. In der Auseinandersetzung mit dem Aquarell (ergänzt durch den Graphitstift) hat die Künstlerin eine umwerfende Meisterschaft erreicht. Wie hingehaucht entfalten sich Farbwolken auf den Blättern und in und um sie herum sind Linien und Formfragmente gelegt, die bisweilen dreidimensionale Räume entstehen lassen. Es ist eine Welt des Zaubers. Man spürt die organischen Formen, doch sie entgleiten ins Surreale und ins Körperlose. Es ist, als würden sich mit den Gestalten die Farben auflösen. In manchen Bildern nähert sich Gabriele Grosse der Einfarbigkeit (Monochromie) an.
Ich habe noch nichts von den Titeln der Arbeiten gesagt. Sie sind sehr vielgestaltig. Mal orientieren sie sich an den biologischen Bezeichnungen, mal an den Eigentümlichkeiten der Landschaft und dann sind sie einfach nur heiter. Deshalb möchte ich die Serie der nachträglich aquarellierten Radierungen, die unter Neue Insektenbelustigung läuft, zum Anlass nehmen, um darauf hinzuweisen, dass das Wesen von Gabriele Grosses Werk nicht zu verstehen ist, wenn man nicht auch die darin angelegte Heiterkeit und den Humor erkennt. Die Künstlerin geht mit großem Ernst, aber auch mit einer kleinen Portion Selbstironie und mit einer steten Bereitschaft zum hintergründigen Humor zu Werke. Die übermalten Radierungen stehen dafür. Sie zeigen außerdem, dass Gabriele Grosse auch Zugang zu ganz anderen Farbräumen hat.
Museum Stadt Bad Hersfeld 10. 6. 2003