Ausstellung „Bücherzeiten“ in Hofgeismar

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir leben in einer Zeit, in der es nicht mehr unmöglich erscheint, dass eines Tages alle wichtigen Handschriften und Bücher digitalisiert und ins Netz gestellt sein werden. So wird das Wissen überall zugänglich und von dem herkömmlichen Träger, dem gebundenen Buch, gelöst. Wird damit alles Geschichte und hinfällig, das uns der Zeichner und Grafiker Rolf Escher in seinem Werkkomplex „Bücherzeiten“ vor Augen führt? Begegnen wir einem Bereich unserer Kultur, der bald schon nur noch Vergangenheit ist?

In einem Blatt, das in dieser Ausstellung zu sehen ist, gibt Escher augenzwinkernd darauf eine Antwort. Da lässt er uns von oben in eine von einer Kuppel gekrönten Bibliothekshalle blicken, in deren Zentrum innerhalb einer runden Büchertheke ein Bibliothekar einsam und verlassen sitzt. Er hat unsere Gegenwart und Zukunft vor Augen – Computer, die vielfach verkabelt sind und mit deren Hilfe die Buchschätze erfasst und überblickt werden können.

Das Merkwürdige an dem Bild allerdings ist, dass es die Verhältnisse umkehrt. Denn nicht die wie ein Palast oder Tempel ausgestattete Bibliothek erscheint veraltet und überholt, sondern der wie verloren wirkende Bibliothekar, seine Monitore und der Kabelsalat. Da sitzt nicht mehr der Herr der Bücher, sondern eine flüchtige, unwichtig gewordene Gestalt.

Damit bin ich bereits bei einem zentralen Thema in Rolf Eschers in einem Jahrzehnt entstandenen Bildserie „Bücherzeiten“. Die Bücher sind von Menschen für Menschen geschrieben, gedruckt und gebunden. Fürsten und Äbte ließen für die Bücher kostbare Gehäuse bauen, damit in ihnen Wissenshungrige lesen und studieren können. Wenn Sie die ausgestellten Arbeiten Blatt für Blatt betrachten, werden Sie auch die Menschen spüren. Dort sind Bücher aufeinander gestapelt, hier ist ein Buch aufgeschlagen. Aber die meisten Räume wirken so, als hätten die Benutzer die Bibliotheken gerade verlassen. Und wenn einmal wirklich Menschen zu sehen sind – wie der erwähnte Bibliothekar oder die gebeugten Gestalten im Lesesaal -, dann wirken sie schattenhaft und flüchtig.

Dafür erwachen andere zum Leben und führen Regie: die barocken Atlanten, die die Last der Gewölbe tragen, oder die Büsten der Geistesheroen, die den Bibliotheksbesuchern schon von weitem verheißen, welche Philosophen und Poeten dort in den Regalen vertreten sind. Es ist, als würden die Büsten, so wie es auch ein Titel andeutet, Zwiegespräche führen. Ihnen scheint Leben und Ausdruck eingehaucht zu sein und selbst die überraschende Wendung ihres Kopfes traut man ihnen zu. In der Arbeit „Der Zornige in der Klosterbibliothek Admont“ wird eine Gestalt so lebendig, dass sie zum Kampf aufzurufen scheint.

Rolf Escher ist also nicht nur ein Künstler, der im Sinne des Bewahrens und Überlieferns ein zeichnerisches Archiv der bedeutenden historischen Bibliotheken anlegt. Er ist auch ein Erzähler, einer, der in den gotischen und barocken Raumfolgen, in den Regalen und zwischen den Bänden Geschichten entdeckt, die er aufnimmt und mit Humor und Ironie fortspinnt. Gelegentlich treibt er dieses Spiel soweit, dass die magisch beschworene Realität ins Überwirkliche, ins Surreale oder Groteske umkippt. An dem einen Treppenaufgang im Predigerseminar finden sie ein solches Blatt: Ein Bücherteufel treibt in einer Bibliothek sein Unwesen, so dass ein Buch aus dem Oval des Bildes herausfällt. Darin steckt eine Vision, die zum Geist einiger Bücher passt, die weit vor der Aufklärung geschrieben wurden und die den Geistern einen Platz im Leben eingeräumt haben. In anderen Blättern, die hier nicht zu sehen sind, stellt sich eine Nähe zu Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ her, wenn Käfer die Lesetische erobern und es sich inmitten der Bücher bequem machen.

Bücher und Buchbestände sind immer bedroht. Denn Buchvernichtungen und Bücherverbrennungen hat es nicht nur in der Zeit der Nationalsozialisten gegeben. Mehrfach scheint diese Bedrohung in Eschers Bildern auf. Aber nicht unbedingt als Vernichtung. Schon ein paar auf den Boden geworfene Bücher können die wohlfeile Ordnung der Bibliotheken ins Chaos stürzen. Prominentestes Beispiel dafür ist der „Büchersturz in London“. In der Farbstiftzeichnung scheint es aus der Höhe der Kuppel Bücher zu regnen. Wir wissen nicht, wer sie durch die Luft segeln lässt. Der Bibliothekar, der an einem der Tische sitzen müsste, könnte von den Büchern erschlagen werden. Die im Titel anklingende Gedankenverbindung zum Prager Fenstersturz macht klar, dass es hier um Existenzielles geht.

Bücherzeiten heißt die Ausstellung. Die Bücher und die Säle dokumentieren Stilepochen und Zeitverläufe. Sie künden von der Kultur des Buches und der Wertschätzung des Geistes. Sie berichten aber auch von Gebrauch und Verfall. Die Bücher, die in Ketten gelegt, in Schränke verschlossen und in schwer zugängliche Regale eingeordnet sind, repräsentieren Werte. Sonst würde man nicht so bedachtsam mit ihnen umgehen und ihnen Räume erbauen, die sonst nur Fürsten zustehen. Die Regale und Säle sind für Jahrhunderte geschaffen. Die Bücher sollen als kostbarer Wissensvorrat überdauern. So haben im Sinne der Bibliotheksschöpfer die Bücher eine längere Lebenszeit als die Menschen. Also ist der Tod, der sich ein paar Bücher unter seine Arme geklemmt hat, nicht bloß ein Vergänglichkeitsmotiv, sondern der Bote jener Erkenntnis, dass nach dem Ableben der Menschen der Tod zum letzten Leser wird.

Was treibt eigentlich einen Zeichner wie Rolf Escher, sich so intensiv in die Welt der Bücher und Bibliotheken zu versenken? Nun, Escher hatte schon immer einen Sinn für alltägliche Dinge, die sich im Grenzbereich von Schönheit und Verfall bewegen, die Lebensspuren in sich tragen und die den Zeichner herausfordern, Stoffe fühlbar und verlassene Räume erlebbar zu machen. So hat Escher Stillleben geschaffen, Räume gespiegelt, Fassaden, Plätze und Straßen studiert. Dabei begab er sich immer auch auf die Suche nach den Menschen, die diese Räume benutzt und bewohnt und die die Straßen bevölkert haben. Ganz gelegentlich tauchen die Menschen auch als flüchtige Wesen auf. Noch häufiger jedoch gestaltet Escher Bilder von Räumen, die die voraufgegangene Anwesenheit der Menschen nur noch erahnen lassen. Besonders spürbar wird das bei dem Bild, das einen runden Zeitungsständer in einem leeren Café zeigt. Allein die rechts hängende Jacke verrät, dass da jemand gewesen sein muss.

Auf seinen Streifzügen vornehmlich durch Europa hat Escher nach den bröckelnden Hausfassaden und verwinkelten Treppenhäusern, nach den Palazzi und den Theatern die Bücher und Bibliotheken entdeckt. Jemand, der gern liest und ein Auge und einen Sinn für liebevoll gebundene Bücher hat, kann sich der Faszination der historischen Bibliotheken nicht entziehen. Das Motiv der Einladungskarte ist eine Liebeserklärung an das alte Buch, das selbst im Verfall noch Würde und Wert hat.

Wenn Sie die Ausstellung aber genauer betrachten, dann sind es letztlich nicht die einzelnen Bücher, die den Reiz der meisten Bilder dieser Serie ausmachen. Vielmehr sind es der Geist und das Klima, aus dem die Bibliotheken geschaffen wurden. Es ist das System des Sammelns und des Ordnens, dem diese Bilderfolge huldigt: Welche großartigen und eigenwilligen Gestaltungsideen wurden dadurch ausgelöst, dass man Buchreihen verwahren und zugänglich machen wollte! Idem sich Escher diesem Aspekt widmet, schafft er Bilder, in denen der Hauptgegenstand, das Buch, meist zum bloßen Schemen, zum Dekor wird. Wir spüren den geheimnisvollen Zauber der Bibliotheken, aber wir sehen vornehmlich raffinierte und komplizierte Architekturdetails: Gotische Spitzbögen und spartanische Schränke, überquellende barocke Formen und eine unbändige Lust am Figürlichen. Die wenigen Bilder, die uns alte Bücher wirklich fühlbar machen, wirken so stark, dass wir ihre braunen Lederrücken auch dort erahnen, wo wir nur angedeutete Reihen von Büchern sehen.

Die meisten Bibliotheksbilder sind im Grunde also ausschnitthafte Architekturdarstellungen. Denn Escher konzentriert sich auf die Motive, die Fenster- oder Säulenreihen einen Rhythmus vorgeben lassen oder die Ausblicke in gewaltige Kuppelhöhen eröffnen oder die mit Hilfe von Durchblicken Raumfolgen erschließen. Rolf Escher hat ein Gespür für Zuspitzungen in der Architektur. Wo ihm der reale Raum aber nicht genügend Dramatik bietet, verschärft er selbst die Akzente. Dann verlängert er eine Wendeltreppe um eine weitere Umdrehung oder dann rückt er eine Porträtbüste noch näher an eine Bücherwand heran. Dabei überlässt er die prägende Rolle dem Licht, das in Streifen von der Seite hereinfällt, das harte Schatten wirft oder das manchmal so stark ist, dass es die Wände und Möbel in einem Raum aufzulösen scheint.

Rolf Escher, der sich seit über 30 Jahren dem Medium Zeichnung widmet, hat später damit begonnen, den Bleistift durch den Farbstift oder das Aquarell zu ergänzen. Bisweilen setzt er die Farbe verstärkend ein, um eine Atmosphäre zu verdichten und die Wirkung des Stofflichen zu erhöhen. Gelegentlich nutzt er jedoch Tuscheflecke und Aquarellverläufe wie Widerhaken. Dann korrigiert er die allzu große Nähe zur Realität und hebt die Perfektion auf.

Diese Beobachtung führt zu einem weiteren Kompositionsprinzip: So meisterlich und ausgefeilt die Zeichnungen, Radierungen und Lithographien erscheinen, so selten sind sie bis zum letzten Element streng ausgeführt. Rolf Eschers Kunst basiert auf der Erfahrung, dass wir als Betrachter die Bilder selbst dort vollenden, wo sie sich mit skizzenhaften Andeutungen begnügen. Nehmen Sie nochmals das Motiv der Einladungskarte: Sie sehen im mittleren Regal sechs breite Buchrücken, von denen die beiden mittleren durch Farbigkeit zuerst ins Auge springen. Wir registrieren die Kette, die offenbar das mittlere Buch zu sichern scheint, wir haben ein Auge für die Schäden an den Einbänden und wir haben ein Gefühl mitten in ein Regal zu schauen, das mindestens über drei Ebenen verfügt.

Ein eindringliches, ein unvergessliches Bild. Nicht umsonst ziert es auch den Titel des Kataloges. Aber haben Sie auch gleich wahrgenommen, dass die beiden anderen Buchreihen kaum farbig akzentuiert sind, ja, dass dort mehrere Bücher nur mit wenigen groben Strichen angedeutet sind? Wir sehen das Bild als fertige und geschlossene Komposition, weil wir das Gemeinte verstehen und automatisch ergänzen. Diese Technik, partienweise die Bilder zu den Rändern auslaufen zu lassen, ihnen etwas Ungesagtes mit auf den Weg zu geben, verleiht den Kompositionen ihre Offenheit und Lebendigkeit. Darin liegt ihre Größe und Souveränität.
Eröffnungsrede April 2006

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