Unter dem Titel Wiedervorlage wird im Kasseler Kunstverein eine Ausstellung zur documenta 5 gezeigt. Von heute Abend bis Sonntag beschäftigt sich auch eine Tagung in Hofgeismar mit dem Thema.
KASSEL Eine Ausstellung, die vor drei Jahrzehnten Schlagzeilen machte. Kann die das Thema einer Ausstellung sein, die auch jene interessiert, die damals nicht dabei waren? Oder spiegelt sich da nur selbstverliebt der Kunstbetrieb? Nein, die Wiedervorlage d5 ist keine Nabelschau. Natürlich geht es im Kern um die Kunst und die Erweiterung des Kunstbegriffs, für deren Durchsetzung im Jahre 1972 der Künstler Joseph Beuys stand. Aber die in fünf Abteilungen gegliederte Schau, die aus dem Fundus des documenta Archivs schöpft, verdeutlicht, wie sehr die von Harald Szeemann verantwortete Ausstellung an den Nerv der Zeit rührte und ihn auch traf. Die Fuhre Mist, von einem Bauern vor dem Fridericianum abgeladen, war der sichtbarste Protest gegen das, was heute die Kunstkenner an der documenta 5 als den Aufbruch in die neue Kunstsprache feiern. Die erste Großausstellung, die einen Reigen von Ereignissen in ihr Programm aufgenommen hatte, provozierte ihrerseits Ereignisse. Wütende Protestaktionen gehörten dazu. Es war, als müsste die Diskussion über die Kunst der Moderne erstmals grundsätzlich geführt werden. Die Ausstellung Wiedervorlage d5 verklärt nicht, sondern spiegelt detailliert die Emotionen. Unterhalb der Pressestimmen findet man an den Wänden die Reproduktionen von handschriftlichen Stellungnahmen, die Volkes Stimme abbilden. Doch nicht nur diejenigen, die die Kunst nicht verstanden hatten, erregten sich, auch die Experten, wie die Video-Dokumentationen belegen. Den einen war die documenta zu radikal, den anderen zu umpolitisch. Der Grafiker Klaus Staeck fand die documenta 5 wegen ihrer Preise und ihrer mangelnden didaktischen Hilfen zu elitär. Allerdings meinte er auch, die documenta 5 habe die Gesellschaft gut widergespiegelt. Wie aufregend und widersprüchlich das Jahr 1972 war, lehren die Foto- und Filmdokumente in Raum 4: Es war das Jahr der Baader-Meinhof-Hysterie und des Terror-Anschlags bei den Olympischen Spielen in München; Willy Brandt überstand das Misstrauensvotum, und Böll erhielt den Nobelpreis. So macht die Ausstellung verständlich, dass die Nachbeben der Studentenrevolte von 1968 dazu beigetragen hatten, beim Blick auf die Kunst auch an die anderen Bildwelten zu denken. Mit der Ausstellung feiert das documenta Archiv sein 40-jähriges Bestehen. Ihr Reiz ist, dass sie die Vorurteile gegen Archiv-Ausstellungen beseitigt. Sie lädt zu Rundgängen unter mehreren Aspekten ein: Man kann die Geschichte der documenta insgesamt Revue passieren lassen; man kann sich über die großen und kleinlichen Fragen amüsieren, mit denen sich Szeemann herumschlagen musste. Man kann in Raum 3 anhand der Dia- und Video-Projektionen die Fülle der documenta-Beiträge auf sich einwirken lassen. Oder man kann sich von Michel Majerus, Stephen Craig, Sabine Groß, Tobias Rehberger und Christian Jankowski an die Hand nehmen lassen, die ihre zeitgenössischen künstlerischen Kommentare zur documenta 5 abgeben. Da steckt Leben drin.
HNA 23. 11. 2001
Nachwirkungen einer Ausstellung
Die Ausstellung Wiedervorlage d5, die sich mit Harald Szeemanns documenta von 1972 beschäftigt, wurde am Wochenende durch eine Tagung in der Evangelischen Akademie Hofgeismar ergänzt.
War es nur ein Familientreffen, bei dem Erinnerungen an die gute alte Zeit ausgetauscht und die kleinen Streitereien in gewohnter Weise fortgesetzt wurden? Phasenweise war das so. Wenn der brillant argumentierende Bazon Brock, der zur documenta 5 eine beispielhafte Besucherschule entwickelt hatte, dem Polit-Grafiker Klaus Staeck vorwarf, er habe die politische Dimension des Konzepts der parallelen Bildwelten von damals nicht verstanden, nachdem dieser vom Verrat an der ursprünglichen Planung gsprochen hatte, dann war man mitten in den alten Schaukämpfen. Und wenn Harald Szeemann seine Rolle als documenta-Macher verklärend beschrieb und die Kasseler Ausstellung zu einem folgerichtigen Kapitel in seiner Biografie machte, war man von einer wirklichen Aufarbeitung weit entfernt.
So wurde in den lebhaften Gesprächen und Diskussionen nur indirekt deutlich, dass die als großer Wurf gefeierte Ausstellung das Ergebnis vieler unterschiedlicher Bemühungen, Widersprüche, Kämpfe und Zufälle war. Vor allem bei der Zeitzeugenbefragung vermisste man die Brechung der erinnernden Darstellungen durch einen kunsthistorisch wertenden Blick von außen. Es fehlte, wie ein Tagungsteilnehmer beklagte, die wirkliche Kontroverse über den Stellenwert der documenta 5. Immerhin wurde in dem letzten Teil der Tagung, über den wir morgen berichten, das Verständnis der documenta 5 aus der Sicht der Nachgeborenen gespiegelt.
Trotzdem war die Tagung in der Evangelischen Akademie Hofgeismar mehr als nur ein Familientreffen, bei dem sentimentale Erinnerungen alles zudecken. Schließlich gelang es, jenen, die das Ereignis von vor fast 30 Jahren nicht miterleben konnten, verständlich zu machen, warum die documenta 5 einen Markstein in der Ausstellungsgeschichte bildet. Mit ihr, so wurde vor allem durch Szeemanns Darlegungen klar, wurde ein neuer Typ der Großausstellung geschaffen, in der ein Einzelner für das Konzept verantwortlich ist. Zudem wurde, wie Brock sagte, in Auseinandersetzung mit den 68er-Ideen der Kunstbereich erstmals umfassend aufgebrochen und wurden neben Kunstwerken auch alle anderen Bildwelten berücksichtigt. Ebenso wichtig war die Veränderung des Ausstellungscharakters: 1972 wurde aus der musealen Schau ein Ereignis für 100 Tage.
In einem Punkt allerdings revidierte Szeemann die Verklärung seiner Kasseler Ausstellung. Viele halten die documenta 5 auch deshalb für so wichtig, weil in ihr erstmals die Künstler präsentiert wurden, die für die nächsten 25 Jahre international bestimmend werden sollten. Szeemann wies nun darauf hin, dass er die meisten von ihnen bereits 1969 in Bern in seiner Ausstellung When attitudes become form gezeigt habe. Diese Berner Schau, die auch der Grund für seine Berufung zum documenta-Leiter gewesen war, sei die eigentliche Revolution gewesen.