Der Spiraltisch Isola des italienischen Künstlers Mario Merz in der Neuen Galerie in Kassel
Es passiert nicht oft, dass ein auf einem Platz aufgestelltes Kunstwerk schon nach kurzer Zeit an dieser Stelle so wirkt, als habe es immer dort gestanden und als wäre kein anderer Standort möglich. Bei der Aufstellung des Spiraltisches Isola (Insel) des italienischen Künstlers Mario Merz im ersten Obergeschoss der Neuen Galerie in Kassel ergab sich ein solcher Glücksfall. Auf Grund seiner Ausmaße stellte sich gar nicht die Frage, ob der Spiraltisch in der Skulpturengalerie platziert werden sollte. In diesen lang gestreckten Gang hätte die Arbeit nicht gepasst. Also erhielt das Werk in dem Oberlichtsaal, in dem die Bilder von documenta-Künstlern konzentriert sind, den prominentesten Platz. Auch damals, als Mario Merz seinen Tisch zur documenta7 (1982) im Fridericianum zeigte, war die Skulptur von Malerei umgeben. Mario Merz ist ein Künstler der so genannten Arte Povera, das heißt der Vertreter einer Kunst, die mit armen, also einfachen Mitteln arbeitet. Diese in den 60er-Jahren in Italien entstandene Bewegung hatte in Deutschland ihre Entsprechung in dem, was Joseph Beuys zeitgleich entwickelte. Harald Szeemann hatte Merz 1972 erstmals zur documenta eingeladen. In dieser Ausstellung hatte Mario Merz im (abgerissenen) Treppenhaus in der Rotunde eine Installation aufgebaut, die aus einem Iglu am Fuß der Treppe sowie einem Motorrad, das die Rotundenwand hochzufahren schien und blauen Neonzahlen bestand. Die Form des Iglus, die Neonzahlen und die gedachte Linie, auf der das Motorrad stand, bezogen sich auf eine mathematische Grundfigur: Mario Merz war auf den italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci gestoßen, der eine Zahlenreihe erdacht hatte, bei der sich jede Zahl aus der Summe der beiden vorhergehenden Zahlen ergibt: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21… Diese sprunghaft ansteigende Zahlenreihe kann Grundlage für die Form einer Spirale oder eines Schneckenhauses sein. Mario Merz kam von dieser Entdeckung nicht mehr los und schuf über Jahre immer wieder Arbeiten, die dem Prinzip dieser Zahlenreihe folgten. Zuletzt war Mario Merz in der documenta IX (1992) mit einer Arbeit vertreten. In der documenta-Halle hatte er die eine Wand mit einer riesigen Installation überzogen, die aus Bildern, an die Wand gelehnten Reisigbündeln und Neonzahlen der Fibonacci-Reihe bestand. In der Kunstkritik gab es einen Streit darum, ob diese Wand Merz überfordert habe. Gewiss konnte er ihr keine Form aufzwingen. Aber als ein sich in der Fläche auflösendes Werk, in dem sich Malerei und Skulptur verbinden, vom Plastischen aber nur noch die Elemente als Zitate bleiben, konnte sie sehr wohl überzeugen. Wichtig an diesem documenta-Beitrag war, dass Merz mit den Reisigbündeln eine Sprache wieder aufnahm, die seine Arbeit von 1982, den Spiraltisch, wesentlich geprägt hatte: Auch in den Tisch, dessen Form sich ebenfalls nach dem Fibonacci-Gesetz entwickelt, hat Merz Reisig gesteckt. Bei der Verteilung der Zweige ließ er sich gleichfalls von dem spiralförmigen Wachstum leiten. So verdichten sich die Zweige im Zentrum. Der niedrige Spiraltisch ist als Raum erlebbar. Man kann in ihn hineingehen und seine Gestaltung studieren. Der Tisch besteht aus Stahlrohren, auf die Glasplatten gelegt sind, die das Licht und die Umgebung spiegeln. Außerdem hat Merz Sandsteinplatten auf den Tisch gelegt und von außen angelehnt. Die eingefügten Reisigzweige und die Sandsteinplatten fand Mario Merz in Kassel und Umgebung. Die Platten hatten zuvor, wie alte Nägel bezeugen, als Hausverkleidung gedient. So verbinden sich in dieser Arbeit Natur und gebaute Kultur. Und die der Natur entnommenen Materialien werden durch die Kunst in eine Form gebracht, die ebenfalls der Natur entlehnt ist. Mario Merz erhielt 1981 den Arnold-Bode-Preis. Aus diesem Anlass erwarb ein Jahr später die Kasseler Sparkasse den Spiraltisch aus der documenta7 und schenkte ihn der Neuen Galerie.
HNA 10. 8. 2002