Die documenta 5 gespiegelt

Sein 40-jähriges Bestehen nimmt das documenta Archiv zum Anlass, Harald Szeemanns documenta 5 zu spiegeln. Mit Hilfe junger Künstler entstand eine vitale Schau in den Räumen des Kunstvereins.

KASSEL Wer nicht gerade forscht, dem erscheint der Gedanke an eine Archiv-Ausstellung nicht gerade einladend. Unwillkürlich denkt man an Texttafeln, Fotos und spröde Materialien. Die Leiterin des Kasseler documenta Archivs, Karin Stengel, war selbstkritisch genug, um das bei der Vorbereitung einer Ausstellung zum 40-jährigen Bestehen des Archivs zu erkennen. So entwickelte sie mit den beiden jungen Ausstellungsmachern Roland Nachtigäller und Martin Köttering ein anderes Konzept: Aus fünf Fragen an die documenta 5, die 1972 eine Wendemarke in der Geschichte der Kasseler Ausstellung bildete, erarbeiteten sie ein Programm für fünf Räume, zu deren Ausgestaltung sie jeweils einen Künstler einluden. Weder die Ausstellungsmacher noch die Künstler haben die documenta 5 erlebt. Sie haben aber erfahren, welche Schlüsselstellung die Ausstellung einnimmt. Und so konnten sie, ohne der Gefahr einer Rekonstruktion oder Imitation zu erliegen, sich unvoreingenommen der zum Mythos gewordenen Ausstellung zu nähern. Auf diese Weise ist eine Inszenierung mit Räumen ganz unterschiedlicher Ansprache und Atmosphäre entstanden. Die aktuellen künstlerischen Beiträge stellen sich dabei weit gehend in den Dienst der Sache, sie drängen sich nicht nach vorn. Im Gegenteil: Im Vergleich zu den Arbeiten und Aktionen, die vor nahezu 30 Jahren heftigsten Widerspruch hervorriefen, wirken die Beiträge der jungen Künstler gefällig. Die documenta 5 hatte vor allem im Fridericianum in Teilen etwas Labyrinthisches. Es ist frappierend, dass der durch eingebaute Wände geschaffene Durchgang durch die Ausstellung diese Atmosphäre wieder erstehen lässt. Die Besucher werden zuerst durch einen langen schmalen, verdunkelten Gang geführt, in dem in den Fensternischen Monitore stehen, deren Bilder, bei der Ausstellung von 1997 beginnend, jeweils eine documenta in die Erinnerung zurückrufen. Video-Interviews In der Ausstellung wird mit den unterschiedlichsten Mitteln gearbeitet: Per Video kann man Bazon Brocks Besucherschule nacherleben und an einem Bildschirmplatz die Interviews abrufen, die Karl Oskar Blase 1972 mit Künstlern, Kritikern und Besuchern produzierte. Im letzten Raum sind auch die lautstarken Reaktionen nachzulesen die Kritiken und Besucherbeschimpfungen. Nicht weniger belustigend oder schreckend ist es, wenn man an anderer Stelle nachlesen kann, wie sich Harald Szeemann als documenta-Leiter auch mit 2,40 Mark Telefonkosten herumschlagen musste. Der zentrale Raum ist der, in dem in Bild-Text-Kombinationen Künstler der documenta 5 vorgestellt wurden. Sabine Gross schuf für den Raum mit Hilfe dissonanter Tapeten einen Hintergrund, der die Verstörungen erahnen lässt, für die insbesondere die Aktionen sorgten. Dort wird der Blick auch auf das Archiv gelenkt. In einem Regal sind die Schuber zu allen beteiligten Künstlern zu finden und an Bildschirmplätzen kann man in der Bibliothek stöbern. Dank der Tatsache, dass das Archiv in das EU-Projekt Vektor aufgenommen wurde, kann es im Zusammenhang mit dieser Ausstellung die Digitalisierung der Bestände vorantreiben. Fernziel ist es, die Bibliothek per Internet zugänglich zu machen und das Archiv mit den fünf verwandten europäischen Einrichtungen zu vernetzen. Die Ausstellung war gestern noch im Aufbau. Insofern muss sich noch zeigen, wie sie funktioniert. Allerdings wirkt überzeugend, wie sie das Material verlebendigt. Auch für diejenigen, die die documenta 5 nicht erlebten, wird die Sprengwirkung erahnbar.
HNA 3. 11. 2001

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