Aus dem reinen Fortschrittsglauben

Der ukrainische Künstler Vladimir Tatlin (1885 – 1953) war einer der Begründer des Konstruktivismus. Einige seiner wichtigsten Werke sind nur als Modelle realisiert worden.

Wenn man die heroischen und einfallslosen Bilder der sozialistischen und speziell stalinistischen Kunst vor Augen hat, fällt es nicht leicht, sich zu vergegenwärtigen, daß die Anfangsjahre der sowjetischen Kulturpolitik wesentlich von der künstlerischen Avantgarde getragen und geprägt wurde: Kandinsky, Chagall, Malewitsch und Tatlin waren nur einige der Kunstpioniere, die sich zumindest zeitweise für die Sache der Revolution erwärmten. Es war vor allem Vladimir Tatlin, der glaubte, er könne die verschiedenen Elemente der Kunst in seinem Werk so vereinen, daß seine Arbeiten zum Ruhm der neuen Gesellschaft beitragen würden. Er war damals, in der Zeit um 1920, beseelt von einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben: Einerseits war er überzeugt, die Gesellschaft ließe sich erneuern und verbessern, und andererseits war er sicher, die Künstler und Techniker könnten mit ihren Erfindungen zur Überwindung der alten Strukturen beitragen. Im Grunde dachte er ähnlich wie 60 Jahre später Joseph Beuys, der die Kunst in das Leben hinein erweitern wollte. Tatlin hatte die Überwindung der traditionellen Kunst im Sinn und zielte auf eine Maschinenkunst, an der Ingenieure gleichberechtigt mitwirken sollten. Das Werk, in dem dieses Denken seinen stärksten Ausdruck fand, war das 1919/20 geschaffene Modell für das „Denkmal der Dritten Internationale”. Dieser spiralförmige Turm sollte als Konferenzgebäude dienen, sollte drehbar sein und von der Architektur über die Malerei, Skulptur, den Film bis zur Kinetik alle bildnerischen Elemente vereinen und sollte zudem ein Monument des rationalen, konstruktivistischen Denkens werden. Fast unlösbar Der Turm blieb ein Modell. Nicht zufällig erinnert er an die Darstellungen vom Turm in Babylon. Er wäre riesig und als Bauaufgabe fast unlösbar geworden. Immerhin ist bemerkenswert, daß progressive Künstler wie Tatlin mit ihren Entwürfen Vorlagen für den architektonischen Monumentalismus lieferten, den ein Jahrzehnt später Stalin durchsetzen wollte. Tatlin aber wurde ebenso wie viele andere der Avantgarde-Künstler unter Stalin als Formalist diffamiert, so daß er sich in die konventionelle Malerei flüchtete. Künstlerisch hatte Tatlin mit kubistischer Malerei um 1911 begonnen. Seine ersten bahnbrechenden Beiträge zur modernen Kunst waren Reliefs, die zwischen 1913 und 1916 entstanden, in denen er die flächige Bildsprache überwand und konstruktivistische Kompositionen entwickelte, die in den Raum hinein wirkten.

HNA 8. 9. 1999

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