Den meisten Besuchern beschert die Kasseler Ausstellung des Werks von KP Brehmer („Alle Künstler lügen“) eine Neuentdeckung. Das Gros seiner Arbeiten ist nahezu unbekannt.
KASSEL Zur documenta4 hatten die politisch-kritischen Künstler demonstriert. Ihnen war die Kasseler Kunstschau von 1968 zu traditionell und unpolitisch angelegt. Vier Jahre später sah die Situation anders aus: Joseph Beuys warb im Museum Fridericianum für sein Denkmodell einer direkten Demokratie durch Volksabstimmung und Jörg Immendorff zeigte seine frechen Aktionsbilder. Auch KP Brehmer, ein Exponent der politisch-analytischen Kunst war dabei. Sein Beitrag war auf dem Rasen vor dem Fridericianum prominent plaziert.
Es handelte sich um eine Deutschlandfahne mit nur schmalen schwarzen sowie roten Streifen und einem sehr breiten goldenen (gelben) Feld. Eine davor im Boden eingelassene Tafel erläuterte die „Korrektur der Nationalfarben (gemessen an der Vermögensverteilung)“: Schwarz stand für den Mittelstand, Rot für die restlichen Haushalte und Gold für das Großkapital. Eindeutiger hätte die Systemkritik kaum ausfallen können. Doch Brehmers Arbeit rief keine Proteststürme hervor; im Gegenteil, sie wurde kaum wahrgenommen. Schließlich war der Kunstmarkt so gefräßig, daß die Zeitschrift „Capital“ eine Grafik zu dieser „Korrektur der Nationalfarben“ verbreitete.
Rene Block, der als Avantgarde-Galerist in Berlin bereits Brehmer in den 60er Jahren vertreten hatte, hält es für eine Ironie des Schicksals, daß Brehmer, der immer an Massenauflagen dachte, seine Grafik fast nur in Kleinauflagen drucken konnte und ausgerechnet dank „Capital“ sein Ziel erreichte.
Als gelernter Reproduktionstechniker hatte sich der 1938 in Berlin geborene Brehmer der Grafik vom Handwerklichen her genähert. Und indem er in den 60er Jahren auf Werbebilder, Fotos und Briefmarken zurückgriff, um seine Grafiken zu gestalten, wurde er zu einem der wichtigsten deutschen Künstler, deren Werk zwischen Pop-art und kritischem Realismus anzusiedeln ist.
Brehmer war ein politischer Künstler. Bewußt hatte er seine Vornamen Klaus-Peter zum Kürzel KP zusammengezogen, das auch für die damals verbotene Kommunistische Partei stand. Aber der politisch-kritische Ansatz überlagerte nie das künstlerische Denken und Arbeiten. So vordergründig die Manipulation der deutschen Fahne erschien, so hintergründig waren diese und andere Arbeiten angelegt. Brehmer spielte nämlich gleich mehrfach mit den Farben und Farbskalen: Er setzte ganz naheliegend bei den Farbmustern und -auszügen ein, instrumentalisierte für sich die Farben als parteipolitische Ordnungssysteme, machte (im Gefolge der Expressionisten) die Farben als Träger von Stimmungen und Gefühlen bewußt und setzte sich ironisierend mit den abstrakten Farbstrukturen der zeitgenössischen Malerei auseinander.
Rene? Block wollte Brehmer anläßlich seines 60. Geburtstages die überfällige Werkschau im Fridericianum ermöglichen. Brehmers plötzlicher Tod im vorigen Dezember ließ einen Nachruf daraus werden. Die Ausstellung überrascht nicht nur ob ihrer Fülle, sondern auch ob ihrer gedanklichen Tiefe und pionierhaften Kreativität. Aus seinem spielerisch-analytischen Ansatz hat Brehmer der zeitgenössischen Kunst eine neue, subjektive und zwingende Basis verpaßt. Weit über die Pop-art hinausgehend hat er Möglichkeiten gefunden, Formen und Farben so einzusetzen, daß sie Wärme und Kälte, Gefühle und Musikalität ausdrücken können. Das Erstaunliche ist, daß dabei Arbeiten entstanden, die eigenständige künstlerische Positionen besetzen.
Dazu paßt hervorragend der Titel „Alle Künstler lügen“, der von Brehmer stammt. Dahinter steckt auch eine Kampfansage an die im Formalen erstarrte Kunst. Die Ausstellung, die sich über zwei Stockwerke erstreckt, hat viele Höhepunkte. Ihre wichtigste Leistung aber besteht darin, daß sie ein künstlerisches Werk vorstellt, das zu den nachhaltigsten der letzten 30 Jahre zu rechnen ist.
HNA 20. 10. 1998