Die Bilder sind längst vorhanden

Drei Künstlergenerationen aus Neuseeland stellt das Museum Fridericianum in Kassel vor. Dieser Bericht versucht eine zweite Annäherung an die Ausstellung „Toi, Toi, Toi“.

KASSEL Eine der wichtigsten der Errungenschaften der Kunst der Moderne ist, daß Künstler die Möglichkeit entdeckten, die Wirklichkeit mit ihren eigenen Mitteln zu spiegeln. In der traditionellen Kunst übertrugen Künstler Seherfahrungen und Empfindungen mit Hilfe von Pinsel und Farbe oder Stein und Meißel auf eine andere Ebene und in ein anderes Material. Ölfarbe war so zu mischen und aufzutragen, daß in der realistischen Malerei die Illusion eines verwitterten Schildes entstand.
Indem aber die Künstler entdeckten, daß die alltäglichen Dinge selbst Bilder oder Bildträger sind und daß folglich mit Hilfe von Material-Zusammenfügungen (Collagen) die Wirklichkeit ganz direkt zu spiegeln sei, begann zu Anfang dieses Jahrhunderts ein neues Kapitel. Am radikalsten ging Joseph Beuys mit dieser Erfahrung um, wenn er Filz und Fett im Sinne ihrer ursprünglichen Wirkung (Wärme, Schutz, Energie) in seinen Arbeiten verwandte. Das heißt: Die Bilder müssen nicht unbedingt erfunden werden, sondern sind längst vorhanden.
Die in Australien lebende Neuseeländerin Rosalie Gascoigne (Jahrgang 1917) ist trotz ihres Alters eher zur mittleren Generation der Künstler zu rechnen, die das Museum Fridericianum vorstellt. Sie ist nämlich erst spät, als über 50jährige zur Kunst gekommen und hat dann gleich einen bemerkenswerten Weg eingeschlagen.
Rosalie Gascoigne sammelt im Grunde Sperrmüll-Materialien – Bruchstücke von Tafeln, Schildern und Wänden. Aus diesen Stücken baut sie Mosaiken, neue Bilder, die sie klar nach Farben und aufgetragenen Schriftzeichen ordnet. In diesen Bildern wird der Verfall spürbar. Andererseits hebt sich die Sinnfälligkeit auf. Die Struktur und klare Funktionalität zerfallen; aus den einstmals lesbaren Texten werden frei schwebende grafische Zeichen; oder die Texte verdichten sich der Form nach zu lyrischen Strukturen, die nichts mitteilen.
Als erste Künstlerin hatte Rosalie Gascoigne ihr Gastland Australien 1982 auf der Biennale in Venedig vertreten können. Ihre Arbeiten verblüffen immer wieder, weil sie eine starke verborgene malerische Kraft verraten und zugleich in ihrer alltäglichen Materialität die gemalte Ebene weit hinter sich lassen.
Die Ausstellung neuseeländischer Kunst ist nicht nur deshalb sehenswert, weil die meisten der dort vorgestellten Künstler bei uns kaum bekannt waren. Sie wird vielmehr dadurch zum Abenteuer, daß die drei Generationen pionierhafte Werke geschaffen haben, die in unseren Diskussionen meist übersehen wurden. Dabei ist das, was im Blick auf das Werk von Rosalie Gascoigne gesagt wurde, fast repräsentativ zu nennen. Auch der Altmeister der neuseeländischen Moderne, Colin McCahon, sowie Billy Apple, Ralph Hotere, Ronnie van Hout und Peter Robinson arbeiten mit Bildwerken, in denen sie oftmals die Schrift und Texte zu prägenden Elementen werden lassen. Bild und Sprache werden als Bestandteile einer Wirklichkeit begriffen.
Der prominenteste neuseeländische Künstler ist Boyd Webb (Jahrgang 1947); da er aber seit über 25 Jahren in England lebt, wird er kaum mit seiner Heimat identifiziert. Webb ist durch inszenierte Fotos, die absurde Geschichten erzählen, bekannt geworden. In jüngster Zeit arbeitet er mit leuchtenden Farbbildern, die in die Fernen des Weltalls und in den Mikrokosmos führen. Die Großfotos, die in Kassel zu sehen sind, erinnern an wissenschaftliche Studien zur Erforschung kleinster Bausteine. Auch dies sind also längst vorhandene Bildwelten. Webb hat sie aber nicht dokumentiert, sondern erfunden – also konstruiert. Zugleich eröffnen sie den Zugang zu abstrakten, eigenständigen Kompositionen. Hier wird die Wirklichkeit so greifbar, daß man sich in ihr verliert.
HNA 4. 3. 1999

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