Der Widerschein des Religiösen

Berliner Ausstellung warum! befragt die zeitgenössische Kunst

BERLIN. Je stärker sich die Kunst im 20. Jahrhundert dem Religiösen entzog, desto intensiver bemühten sich die christlichen Kirchen um sie. Der eine Grund dafür war historisch bedingt: Über Jahrhunderte hatten Künstler den Kirchen geholfen, ihre Botschaften in Bilder umzusetzen; das sollte so bleiben. Der andere Grund war darin zu sehen, dass es vielen Künstlern gelang, Räume zu gestalten, die wie religiös aufgeladen wirkten. Dass der Dialog Kunst-Kirche dennoch seine Schwierigkeiten hatte und hat, liegt nicht nur an der jahrzehntelangen Vorherrschaft ungegenständlicher Kunst. Entscheidender ist, dass nur die wenigsten Künstler eine innere Bindung an christliche Vorstellungen und Themen haben. Trotzdem ist aus Anlass der Kirchentage immer wieder die Kunst auf ihre Aussagekraft mit Blick auf das Religiöse befragt worden. Die Ergebnisse waren oftmals überraschend ergiebig. Das gilt auch für die Ausstellung warum!, die aus Anlass des Ökumenischen Kirchentages in Berlin im Gropius-Bau zusammengestellt wurde und die zudem jenseits des Kirchentages Beachtung verdient. Die Kuratoren der Ausstellung, Matthias Flügge und Friedrich Meschede, haben nach dem Widerschein des Religiösen in der zeitgenössischen Kunst gesucht also nach Werken, die Beziehungen zur Überlieferung des Christlichen erkennen lassen. Darüber allerdings steht eine andere, weiter greifende Frage die nach dem Wesen und Bild des Menschen. Die Zahl der Künstler, die sich mit dem Bild des Menschen beschäftigt, ist größer, als man vermuten würde. Allerdings klingt das, was diese Künstler uns zu sagen haben, nicht sehr hoffnungsvoll. Die Verfolgung, die Kreuzigung und die Apokalypse liegen näher als die ermutigende Vision. Gerhard Richters Gemäldeserie Verkündigung nach Tizian (1973) mit ihrem zauberhaften Farbreflex auf das Tizian-Gemälde bildet da die große Ausnahme. Denn schon in der Installation von Florian Slotawa wird die Verkündigung auf den Boden des Alltags zurückgeholt: Das christliche Motiv wird auf eine Skulptur übertragen, die aus dem Hausrat des Künstlers besteht. Die Ausstellung bietet einige hervorragende Künstlerräume. So wie in der Malerei von Maria Lassnig sind die meisten Arbeiten unter der Frage Was bleibt vom Menschen? zu sehen. Lassnig und Thomas Schütte spiegeln in ihren Bildern und Skulpturen von bruchstückhaften Körpern eher die Verzweiflung über Gewalt und Zerstörung. Die älteste Arbeit stammt von 1949: Max Imdahls Schmerzensmann steht noch in der Tradition der klassischen Kreuzigungsbilder. An die Schattenseiten des Christentums, nämlich die Hexenverbrennungen, erinnert Kiki Smith mit ihren drei Scheiterhaufen, auf denen jeweils eine weibliche Bronzefigur sitzt. Der Mensch, so lautet die Botschaft, ist bedroht und oft genug zum Opfer geworden. Da, wo er lebt, ist er ort- und beziehungslos geworden. Joseph Beuys machte dies 1974 in seiner New Yorker Performance I like America, America like me, die als Film in der Ausstellung zu erleben ist, anschaulich. Ohne amerikanischen Boden zu berühren, ließ er sich nach New York transportieren und setzte sich dort in der Galerie von René Block drei Tage lang der Begegnung mit einem Urwesen Amerikas, dem Coyoten, aus. Die Annäherung an den fremden Kontinent vollzog sich über dessen archaische Kräfte. Ein nahezu zeitloses Bild.
HNA 4. 6. 2003

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