Ein Visionär der Bildwelten

Zum Tode des Ausstellungsmachers Harald Szeemann – Seine documenta 5 wurde legendär

KASSEL/ZÜRICH. Am 2. Oktober sollte er den Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ in Empfang nehmen. Dankbar und mit Freude hatte er zugesagt. Einen Tag später wollte er in Berlin sein, um im Gropius-Bau seine Ausstellung „Rundlederwelten“ zu eröffnen. Harald Szeemann steckte mitten in den Vorarbeiten zu dem Projekt, das das Verhältnis von Kunst und Fußball beleuchten soll und als offizieller Beitrag zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 geplant ist. Jetzt aber erlag er 71-jährig in Zürich überraschend einem Lungenleiden.

Harald Szeemann war der bedeutendste Ausstellungsmacher der vergangenen 40 Jahre. Unerschöpflich waren seine Ideen für Themen jenseits der Moden und Trends, untrüglich war sein Gespür für neue Ausdrucksformen der Kunst. Dabei war ihm die Kunst nie Selbstzweck, immer sah er sie in Beziehung zu den anderen Bildwelten, zu den Problemen der Wirklichkeit und der Gesellschaft. Eine seiner schönsten und visionärsten Ausstellungen war das 1983 verwirklichte Projekt „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Überblickt man die zahllosen Ausstellungen, die er seit 1961 organisierte, dann fügen sie sich selbst zu einem Gesamtkunstwerk.

Durch Szeemann wurde das Finden und Organisieren von Ausstellungen selbst zur Kunst, und er war es, der überhaupt den Beruf des freien Ausstellungsmachers etablierte. Für die Biennale in Venedig erfand er 1980 unter dem Titel „Aperto“ eine Abteilung, die an ungewohnten Orten Ausblicke auf die junge Kunst eröffnete. Und 1999 sowie 2001 gab er als Chef der Biennale in der Lagunenstadt der von Krisen geschüttelten Schau neue Strukturen und eroberte dabei neue Räume.

Sein Meisterstück lieferte Szeemann 1972 in Kassel mit der documenta 5 ab. Es war die erste Ausstellung, die nicht mehr der documenta-Vater Arnold Bode organisiert hatte und die mit der Befragung der Bildwelten einen thematischen Ansatz bot. Alles wurde gezeigt – von der Werbung und politischen Propaganda bis zu den jüngsten Schöpfungen der Kunst, die Szeemann unter dem Titel „Individuelle Mythologien“ präsentierte.

Vorbereitet hatte er diese Öffnung zu neuen Ausdrucksformen der Kunst mit seiner 1969 in Bern gezeigten Schau „When Attitudes Become Form“ (Wenn Haltungen Form gewinnen). Dahinter verbarg sich ein Traditionsbruch: Nicht mehr die klassischen Bildformen und Skulpturen waren maßgebend, sondern Haltungen, aus denen mal plastische Formen wie bei Mario Merz oder Richard Serra, mal Aktionen wie bei Joseph Beuys oder mal poetische Bildfindungen wie bei Panamarenko entstehen konnten.

Die documenta 5 gilt heute als Wendepunkt – nicht nur für die Geschichte der Kasseler Weltkunstschau. Ihre herausragende Leistung wurde 2001 in einer eigenen Ausstellung im Kasseler Museum Fridericianum gewürdigt. Allerdings hatte Szeemanns legendäre Ausstellung erst einmal auch heftige Kritik hervorgerufen, weil viele auf diesen Traditionsbruch nicht vorbereitet gewesen waren. Und schließlich hatte es ein monatelanges Tauziehen um die Begleichung des entstandenen Defizits in Höhe von 800 000 Mark (rund 409 000 Euro) gegeben, obwohl alle gewusst hatten, dass die documenta 5 von Anfang an unterfinanziert gewesen war.

Mehrfach war er erneut als documenta-Leiter im Gespräch. Für die documenta 1987 war er sogar zusammen mit dem Holländer Edi de Wilde als Leiter nominiert worden; doch das Duo gab auf. Dafür sorgte Szeemann andernorts mit seinen ungewöhnlichen Ausstellungen immer wieder für Aufsehen.

Mit dem Kasseler Bürgerpreis sollten Szeemanns documenta 5 und sein Gesamtwerk gewürdigt werden. Die Preisverleihung hätte ihn zu einer Art Ehrenbürger der Stadt gemacht, als der er von vielen schon lange begriffen worden war. Jetzt muss die Feier zur Gedenkstunde werden.
HNA 21. 2. 2005

Schreibe einen Kommentar