Tiefenschichten der Wirklichkeit

In einer seiner größten Einzelausstellungen für einen Künstler würdigt das Kölner Museum Ludwig das Lebenswerk des Amerikaners Robert Rauschenberg (72).

KÖLN Vor 30 Jahren wurde die Kasseler documenta zu einem Fest der amerikanischen Pop-art. Robert Rauschenberg, damals 42 Jahre alt, war einer der Hauptmatadoren. Der Publikumserfolg der Ausstellung konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die documenta die Pop-art mindestens vier Jahre zu spät zur Kenntnis genommen hatte. Zwar war Rauschenberg schon 1959 und 1964 in Kassel vorgestellt worden, doch eher wie ein Einzelgänger. Noch schlimmer: 1959 landete eines der wichtigsten Rauschenberg-Werke im Depot statt in der Ausstellung. Das damals für die Auswahl der amerikanischen Künstler zuständige Museum of Modern Art in New York hatte Rauschenberg-Mischtechniken („Combine Paintings“) mitgeschickt, von denen das Bildobjekt „The Bed“ (heute im Museum of Modern Art) aus kleinmut nicht ausgestellt wurde.

Das Werk „The Bed“ ist nun in der repräsentativen Rauschenberg-Ausstellung zu besichtigen, die aus New York über Houston ins Kölner Museum Ludwig kam und nach Bilbao wandert. Das Wandobjekt „The Bed“ hat in der Tat Bett-Charakter: Eine bunt gemusterte Steppdecke, ein Kopfkissen und Laken sind auf einen fast zwei Meter langen und 80 Zentimeter breiten Holzrahmen gespannt. Zum Bild wird es durch die aktionistische Bemalung in der oberen Hälfte. Das Werk erscheint wie ein Schlüsselbild. Einerseits dokumentiert es Rauschenbergs besondere Beziehung zur „Action Painting“, auf der anderen Seite läßt es erkennen, wie frühzeitig sich der Künstler darum bemühte, die Zeugnisse des Lebens unmittelbar in seine Arbeiten einzubeziehen.
Mit solchen „Combine Paintings“ bereitete Rauschenberg in den 50er Jahren der Pop-art den Weg, auch nahm er vorweg, was ein Jahrzehnt später in Deutschland Sigmar Polke mit seinen auf bedruckten Stoffen gemalten Bildern begann. Das Faszinierende der Kölner Ausstellung ist, daß sie mehr als nur Fülle bietet – rund 300 Werke aus fast 50 Jahren in drei Abteilungen. Sie vermittelt ganz unmittelbar die ungeheure Kraft, die in dem Gesamtwerk steckt. Ob Fotografien, kleine Objekte, Choreografien oder die Formen der Bildkomposition – immer hat Rauschenberg pionierhaft Wege geöffnet und Meisterliches geleistet.
Anknüpfend an die Collagen der Kubisten und Dadaisten (vor allem von Kurt Schwitters) hat Rauschenberg seine Bilder durch Wirklichkeitszitate bereichert. Anfangs klebte er Zeitungsausschnitte und Fotos ebenso wie andere Gegenstände in seine Bilder ein. Er ging aber darüber hinaus und fand mit Hilfe von Serigrafien, Abreibe- und Durchreibetechniken Wege, die ihm ermöglichten, die Wirklichkeitsbelege zu Grundbestandteilen seiner Bilder werden zu lassen. Der hier abgebildete Siebdruck „Retroactive“ (Rückwirkend) von 1964 ist ein Musterbeispiel dafür. Es ist ein malerisches, von der Farbe bestimmtes Bild, in dem sich auf einer Ebene (in der Fläche) die unterschiedlichsten Bezüge wiederfinden. Es ist, als würde Rauschenberg die Tiefenschichten der Realität freilegen.
Wandert man durch die Ausstellung, dann offenbart sich ein Kosmos, der die künstlerischen Möglichkeiten eines halben Jahrhunderts birgt. Weil Rauschenberg aber fast nie Kunst um ihrer selbst willen machte, spiegeln seine Werke auch die Zeit seit 1950, ihre Helden und ihre Probleme. Darin besteht Rauschenbergs herausragende Leistung, daß er, in der Kunst fortschreitend, die Wirklichkeit kommentierte. Lediglich der Versuch, diese Art der Reflexion auf die Kulturen der Welt auszuweiten, führte ihn nicht wesentlich weiter.
HNA 1. 9. 1998

Schreibe einen Kommentar