Die poetische Kraft der Kunst

Mit der Fertigstellung einer Brücke von Ilya Kabakov wird in diesem Herbst in Hann. Münden der Startschuß für ein zweijähriges Kunstprojekt als Beitrag zur Expo 2000 gegeben.

HANN.MÜNDEN So richtig fassen können es einige immer noch nicht, daß es der kleinen Stadt Hann. Münden gelungen sein soll, den Mann für ein Ausstellungsvorhaben zu gewinnen, der 1992 durch seine documenta populär geworden: Der belgische Museumsdirektor Jan Hoet (Gent) bereitet im Rahmen des Expo-Beitrages „Wasserspuren“ der Stadt Hann. Münden, ein zweistufiges und über zwei Jahre laufendes Kunstprojekt vor. Die Gesamtkosten werden zwei Millionen Mark betragen.
Ja, Jan Hoet hat sich darauf eingelassen, und zwar genau in der Art und Weise, wie man es bei der documenta9 erfahren hat – mit Haut und Haaren, engagiert und missionierend. Wenn er im Rittersaal des Welfenschlosses von Hann. Münden ans Podium tritt, Dias von Kunstwerken vorführt und davon erzählt, daß man die Kunst physisch erleben müsse – im Raum und mit dem Körper -, dann fühlt man sich in seinen documenta-Marathon zurückversetzt.
Wenn er voller Zuversicht von der poetischen Kraft der Kunst spricht oder davon, daß das, was die Künstler sagen, von Gott komme, dann blickt er selbstbewußt und suchend zugleich in die Runde. Dann weiß man im Moment nicht, ob er nur Bestätigung erheischen oder lediglich für sich selbst herausfinden will, ob er da nicht etwas Goldrichtiges gesagt habe.
Noch immer ist Jan Hoet erfindungsreich beim Entwickeln von Ausstellungskonzepten. Auch für Hann. Münden liefert er nicht bloß etwas ab, sondern führt die Künstler und die Bürger allmählich an das Projekt heran. Natürlich gibt es im Jahre 2000, parallel zur Expo in Hannover, eine richtige Ausstellung im historischen Packhof. Da soll dann in allen Medien der Kunst gespiegelt werden, was heute Künstler zum Thema Wasser zu sagen haben. Aber das ist in weiter Ferne.
Das möglicherweise größere und erst einmal spannendere Projekt soll in diesem Herbst schon beginnen und sich allmählich so erweitern und verdichten, daß im Expo-Sommer 2000 der Höhepunkt erreicht wird: Jan Hoet will insgesamt 18 Künstler einladen, die Werke (Skulpturen) im Bereich von Fulda, Werra und Weser verwirklichen, die in Beziehung zu den Flüssen und Ufern stehen. In diesem Jahr sollen die drei Künstler Ilya Kabakov, Jason Rhoades und Micha Ullman den Anfang machen; 1999 sollen Arbeiten von sechs anderen Künstlern und 2000 von weiteren neun hinzukommen. So werden im Expo-Jahr 18 Kunstwerke in den Uferzonen von Hann. Münden zu sehen sein.
Bei einem öffentlichen Gespräch mit Jan Hoet, der im Welfenschloß sein Konzept erläuterte, fragten mehrfach Zuhörer, ob denn einige der Werke auf Dauer in Hann. Münden bleiben könnten. Hoet wollte und konnte sich in dieser finanziell heiklen Frage nicht festlegen. Er sagte aber zu, daß jeder der 18 Künstler im Zusammenhang mit seiner Arbeit für die Stadt ein Auflagenobjekt herstellen werde, das erworben werden kann und zur Finanzierung beitragen soll.
Bei dem Gespräch stellte Jan Hoet auch den Entwurf vor, den der heute in New York lebende russische Künstler Ilya Kabakov entwickelt hat. Kabakov will einen Flußarm mit einer filigranen, nostalgisch wirkenden Brücke überspannen, die nicht begehbar ist. Mitten auf der Brücke soll wie die Erinnerung an eine ferne Zeit eine Mädchenfigur (kostümierte Puppe) stehen.
Kabakov ist einer der maßgeblichen Avantgarde-Künstler unserer Zeit, der immer wieder faszinierende Bilder erfindet, um die Zustände der Welt und der Kunst zu kommentieren. 1992 hatte er zur documenta ein Toilettenhaus erbauen lassen, das sich im Innern als russischer Wohnraum entpuppte. Mit seiner Arbeit für Hann. Münden kann er genau das leisten, was Jan Hoet versprochen hat: die poetischen Kräfte der Kunst aktivieren.

HNA 3. 7. 1998

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