Ein Maler deutscher Geschichte

In der Berliner Neuen Nationalgalerie wird das Schaffen von Jörg Immendorff gefeiert

Berlin. Am Anfang stand der Protest: Ein Motiv auf rotem Grund strich Jörg Immendorff (Jahrgang 1945) durch und schrieb in die nasse Farbe „Hört auf zu malen“. Das war 1966. Zwei Jahre später war er dabei, als gegen die documenta und deren Marktabhängigkeit protestiert wurde. Dann folgten didaktische Bilder, in denen der damalige Kunstpädagoge Gegenpositionen zur bürgerlichen Kunst aufzeigte.
Mit diesen revolutionär-aufklärerischen Bildern war der in Düsseldorf lebende Künstler in der documenta von 1972 vertreten. Damit begannen der Aufstieg und der Verrat seines ursprünglichen Ansatzes. Weder hörte er auf zu malen noch entzog er sich dem Kunstbetrieb, der die Preise für seine Gemälde und Skulpturen hochklettern ließ. Am Ende öffneten sich ihm die Kunstpaläste und kam der Bundeskanzler zu seiner Übersichtsschau in der Neuen Nationalgalerie.
War der Versuch, aus dem Kunstbetrieb auszubrechen, nur ein Selbstbetrug? Der Widerstand und der Zorn zu Beginn waren echt. Doch in dem Moment, in dem Immendorff den Geist der Zeit getroffen hatte, konnte er sich ihm auch nicht mehr entziehen. Immerhin sind zwei Elemente aus der Frühzeit geblieben: Immendorff hat in seinen Bildern immer wieder die Malerei thematisiert. Außerdem ist er der wohl konsequenteste politische Maler in Deutschland. Kein zweiter Künstler hat so systematisch die Geschichte des geteilten Landes in den 70er- und 80er-Jahren dokumentiert und ironisch kommentiert wie er. Auch deshalb ist die Nationalgalerie am Potsdamer Platz ein idealer Ort. Seine Großformate aus der Serie „Café Deutschland“ sowie aus dem Umkreis bilden das Zentrum der Berliner Schau. Einige Gemälde wie das hier abgebildete „Gyntiana“ erscheinen wie ein Blick wie in den Kopf des Künstlers, in dem sich alle Figuren tummeln, die für ihn privat, künstlerisch und politisch von Bedeutung sind.

Der von einer unheilbaren Krankheit befallene und an den Rollstuhl gefesselte Künstler nutzt die Ausstellung, um Bilanz zu ziehen. Einerseits ist er altersweise geworden und hat zu einem klassischen Stil gefunden. Seine späten Bilder, die er nicht mehr ohne Hilfe seiner Assistenten fertig stellen kann, lassen eine Todesahnung durchscheinen. Auf der anderen Seite entwarf er eine Inszenierung, die noch den vor Kraft strotzenden Künstler vorspiegelt. Die sonst für Gemälde-Ausstellungen kaum brauchbare Glashalle der Nationalgalerie bekam Immendorff mithilfe roter Kabinette in den Griff, die durch rote Wege verbunden sind und die man besteigen kann, um die Werke von oben zu betrachten.
Immendorff mag kraftlos geworden sein. Doch er hat es verstanden, sein Lebenswerk so zu spiegeln, dass er sich als einer der wichtigsten deutschen Künstler der Gegenwart behauptet. Für eine besondere Note sorgt der Raum, in dem er eine Reihe von Bronzeplastiken aufgestellt hat, die prominente Künstler als Affen vorstellen: Damit schlägt Immendorff sein Grundthema an: Wo steht die Kunst? Soll sie nachahmen wie die Affen oder die Wirklichkeit ignorieren? Immendorff hat mit seiner Bilderwelt eine eindeutige Antwort gegeben – zu Gunsten der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Kunst.
HNA 7. 10. 2005

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