Rembrandts hohe Kunst der Grafik

In Schloss Corvey präsentiert das Berliner Kupferstichkabinett 100 Radierungen

CORVEY / HÖXTER. Das Bild ist nur 5,1 Zentimeter hoch und 4,5 Zentimeter breit. Es handelt sich um eine Miniatur, allerdings um eine, in die wir sofort hineingezogen werden. Wir sehen von unten mitten in ein Gesicht, dessen gespitzter Mund leicht geöffnet ist und dessen aufgerissene Augen auf uns gerichtet sind. Herausfordernd blickt uns ein junger Mann an, dessen wilde Locken von einer Mütze gebändigt werden.
Das war also Rembrandt Harmenszoon von Rijn im Alter von 24 Jahren. Mit diesem Selbstbildnis aus dem Jahre 1630 wird der Überblick über das grafische Schaffen des niederländischen Malers in Schloss Corvey bei Höxter eröffnet. Rund 100 Radierungen aus dem Besitz des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen Berlin kann das aus einer Benediktinerabtei hervorgegangene Barockschloss zeigen. Und Corvey erhielt die Ehre, diesen Bilderschatz aus Anlass des 400. Geburtstages von Rembrandt noch vor dem Berliner Kupferstichkabinett zu zeigen.
Dem ersten Selbstbildnis folgen acht weitere. Allein sechs stammen aus den Jahren 1630-32, in denen Rembrandts Radierkunst einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Mit großer Experimentierlust probierte er die Darstellung von Gefühlen, Stimmungen und mimischen Kontrasten aus. Mal präsentierte er sich mit wildem Haar und geöffnetem Mund, mal mit strengem Blick und gerunzelter Stirn.
Wenn man das Blatt „Selbstbildnis als Bettler“ hinzunimmt, dann spürt man, dass es bei den Gesichtsstudien nicht so sehr um Selbsterforschung ging. Vielmehr nutzte Rembrandt sich als Modell, um menschliche Gemütszustände zu erfassen.
Nach Albrecht Dürer und vor Francisco de Goya zählt Rembrandt zu den überragendsten Meistern der Radierkunst. Während viele andere Künstler den Kupferstich und die Arbeit mit Nadel und Stichel an der Radierplatte pflegten, um Bildideen in größerer Auflage zu verbreiten, ging es Rembrandt erst in zweiter Linie um Vervielfältigung. Für ihn war die Radierung eine andere und eigene Form des künstlerischen Ausdrucks. Er arbeitete in diesem Medium spontan und spielte mit den Ausdrucksformen.
Die Röntgentechnik hat es ermöglicht, unter die Oberflächen der Gemälde zu schauen und verloren gegangene Kompositionen zu erkennen. Der Vorteil der Radierung hingegen ist, dass der Künstler einen Bearbeitungszustand in einem Probedruck festhalten kann, bevor er (wie bei dem „Selbstbildnis zeichnend am Fenster“, 1648) die Komposition schwärzt und ihr plastische Tiefe gibt.
In hervorragender Weise ist das an der Radierung „Die drei Kreuze“ zu studieren, deren drei Fassungen zeigen, wie Rembrandt mit der Lichtführung auch die Botschaft der Komposition veränderte. Tiefdunkle Blätter, aus denen nur Nachtlichter zu leuchten scheinen, hängen neben hellen Strichzeichnungen. Man sieht herrliche, in die Breite gezogene Landschaften, biblische Szenen und treffliche Figurenbilder, die Rembrandt als radikalen Realisten ausweisen. Wer sonst hätte Adam und Eva so ungeschönt und drastisch als Sünder dargestellt? Die Schau ist ein großartiges Erlebnis.
HNA 27. 4. 2006

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