Auflösung der geschlossenen Form

1932 schuf der Schweizer Bildhauer Alberto Giacometti (1901 – 1966) die Skulptur „Frau mit durchschnittener Kehle“, die ihn damals zu einem Wortführer der Surrealisten werden ließ.

Wer sich ein wenig in der Kunst auskennt und mit dem Namen Alberto Giacometti Werk-Vorstellungen verbindet, der denkt an die riesenhaften, schlanken Menschengestalten mit den großen Füßen, langen Beinen und winzigen Köpfen. Diese Skulpturen, die an Figuren aus etruskischer Zeit erinnern, machten den Schweizer Künstler ebenso berühmt wie seine Porträtbilder, in denen er die Gesichter aus einer Unzahl von kräftigen Linien hervorholte. Die plastischen Urgestalten wurden zum Markenzeichen Giacomettis.
Doch bevor er zu diesem Stil fand, arbeitete er zu Beginn der 30er Jahren an bildhauerischen Lösungen, die in eine ganz andere Richtung wiesen: Er brach mit der Tradition der geschlossenen plastischen Form, die aus dem Stein gehauen oder in Bronze gegossen wird. Giacometti öffnete die Skulptur zum Raum hin, ließ sie durchsichtig werden und mit dem Umraum verschmelzen. Erfuhr man in der klassischen Bildhauerkunst die plastische Gestalt erst durch das Umgehen der Skulptur, wird hier die raumgreifende Form schon von weitem erkennbar. Das einst fest umrissene Werk scheint in seine Einzelteile auseinanderzufallen.
Diesen Entwicklungsschritt vollzog er genau zu der Zeit, als er Kontakt zu der Gruppe der Surrealisten fand, die sich darum bemühten, Traumvorstellungen und das Unbewußte für die Kunst zu aktivieren. Dabei waren es vor allem die alptraumhaften Gewaltvorstellungen, die damals Giacometti beschäftigten. In seiner Arbeit „Frau mit durchgeschnittener Kehle“ verschmilzt die sich aufbäumende menschliche Gestalt mit rätselhaften Formen, die an einen tierischen Panzer oder einen Löffel erinnern. Die Frau scheint zum Insekt zu werden – gleich Gregor Samsa, der in Kafkas „Verwandlung“ zum Käfer wurde.

HNA 28. 7. 1999

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