Der Katalane Joan Brossa wird im nächsten Jahr 80. Für uns ist er aber ein junger, gerade erst entdeckter Künstler. Seine „Objekt-Gedichte“ sind im Kasseler Fridericianum zu besichtigen.
KASSEL Der in seiner Heimatstadt Barcelona lebende Joan Brossa ist in erster Linie Schriftsteller – ein Poet, der Gedichte, Theaterstücke und Drehbücher schreibt. Er steht dem Surrealismus nahe und fand über die Sprache zum Bild und Objekt. Immer noch fühlt sich der Katalane vornehmlich als Dichter. Also werden seine bildnerischen Werke „Objekt-Gedichte“ genannt: Es sind kurze, pointierte Verse, die von der Sprach- auf die Ding-Ebene übertragen worden sind.
Als bildender Künstler ist Brossa erst spät wahrgenommen worden. Seinen ersten großen internationalen internationalen Auftritt erlebte er im vorigen Jahr, als seine Werke im spanischen Pavillon der Biennale von Venedig zu sehen waren. In dem Moment allerdings, in dem man die Arbeiten sieht, von ihrem Zauber umfangen und von ihrem poetischen Witz erheitert wird, wundert man sich, daß Brossa nicht früher entdeckt wurde. Dieser Künstler gehört in eine Reihe mit Duchamp, Broodthaers, Filliou und (im deutschen Raum) Timm Ulrichs. Insofern leistet Rene? Block mit der Brossa-Schau, die zu dem mehrteiligen Ausstellungsprojekt „Schon wieder Abseits“ gehört, Pionier-Arbeit.
Joan Brossa deutet die Welt neu, ohne deren Bild völlig neu zu entwerfen. Immer geht er von alltäglichen Gegenständen aus. Mit einer leichten, spielerischen Geste kippt er sie ein wenig oder fügt ihnen etwas Widersprüchliches hinzu. Und schon geraten die Dinge aus dem Lot, werden die nützlichen Gegenstände absurd und beginnen Geschichten, die wir selbst zu Ende erzählen müssen: Da steht auf einer Sandfläche ein Motorradbeiwagen, der mit Büchern vollgepackt ist. Daneben ist im Sand eine Fahrspur zu sehen, die den Blick auf das Motorrad hinlenkt, das weggefahren ist und am anderen Ende des Saales steht. Das Motorrad trägt einen flimmernden Fernseher. Ist die Zeit für Bücher abgefahren?
Ein Frühstücksei, das man mit einem Schlüssel offensichtlich aufziehen kann, ein großes Holzrad, das von einem kleinen Holzwagen getragen wird, ein Bleistift, der eine schwarze Pfütze gebildet hat, oder ein Boot, das auf einem Konfetti-See schwimmt. Das sind verrückte Bilder, die sich allen Regeln widersetzen. Indem sie aber Unmögliches und Absurdes projizieren, entführen sie aus der Welt des Nützlichen in die Sphäre des Phantastischen. Dabei können durchaus die Betrachtungsweisen wechseln. So kann man den auf Holzräder gelegten Spazierstock als kindliches Gefährt ansehen, während das Konfetti auf der Kirchenbank moralisch auf die Ausschweifungen verweist, die möglicherweise zu beichten sind.
Mit einiger Freude registriert man, daß die Tradition, in der Brossa steht, fortlebt: Innerhalb der (parallelen) Ausstellung dänischer Künstler ist nämlich mit Jytte Hoy eine geistesverwandte Natur zu entdecken. Hoys oft nur durch winzige Eingriffe entstandene Objekte und Bilder sind ebenso philosophisch wie ironisch angelegt
HNA 14. 7. 1998