Die Bewegung im Bild fassen

Marcel Duchamp (1887 – 1968) war einer der großen Revolutionäre der Kunst. 1913 schuf er ein Objekt, das aus einer kopfstehend montierten Fahrradgabel mit einem Rad besteht.
Bei der Diskussion über ungewöhnliche zeitgenössische Kunstwerke wird oft übersehen, daß die entscheidenden provokativen Erfindungen der Kunst bereits in den beiden ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts gemacht worden sind. Der Franzose Marcel Duchamp, der auch ein wichtiger Kopf der Dada-Bewegung war, provozierte, indem er die Verhältnisse auf den Kopf stellte: Dem verklärten Bild vom einsam schaffenden und einmaligen Künstler stellte er die Behauptung entgegen, der Künstler brauche nicht neu zu erfinden, sondern könne auf industriell gefertigte Produkte zurückgreifen. Dieser folgenreiche Schritt war damals eine unglaubliche Herausforderung. Schließlich verband sich damit auch die These, daß nicht unbedingt der schöpferische Akt Voraussetzung für die Entstehung eines Kunstwerks sei, sondern die Übereinkunft, etwas als Kunst anzusehen. Industrie-Erzeugnisse Mehrfach hat Duchamp Industrie-Erzeugnisse wie Kunstwerke präsentiert: das Fahrrad-Rad, einen Flaschentrockner und ein Urinoir. Für diese vorgefundenen und vorgefertigten Objekte bürgerte sich die Bezeichnung Ready-mades ein. Der provokative Angriff auf das traditionelle Kunstverständnis ging allerdings ins Leere. Duchamp gelang es nicht, das kultische Verhältnis zum künstlerischen Schöpfungsakt und zum Kunstbegriff zu unterminieren, sondern bald schon waren auch seine Ready-mades Kunsthandels- und Museumsobjekte. Aber das Fahrrad-Rad, mit dem Duchamp 1913 den Weg zu einem neuen Kunstverständnis öffnete, war nicht nur als ein Ausbruch aus der handwerklich-künstlerischen Tradition zu verstehen. Duchamp hatte auch ganz anderes im Sinn gehabt. In den Jahren zuvor hatte er malerisch gearbeitet; er hatte sich erst mit dem Impressionismus und dann mit dem Kubismus auseinandergesetzt. Angeregt durch Fotoserien und frühe filmische Versuche zur Analyse und Darstellung von Bewegungsabläufen sowie durch die Bemühungen der Futuristen, die Bewegung im unbewegten Bild zu fassen, hatte Duchamp 1911 sein berühmtes Bild „Akt, eine Treppe hinabsteigend” geschaffen. In diesem Bild wird der Bewegungsvorgang in Phasen aufgefächert, so daß die Umrisse der weiblichen Figur mehrfach und verschoben sichtbar werden. Das „Fahrrad-Rad” war also in erster Linie als eine Fortsetzung der Bemühungen um die Darstellung der Bewegung zu sehen: Setzt man das Rad in Bewegung, dann gibt es einen Zustand, in dem die schnelle Rotation ein langsames Bewegungsbild entstehen läßt und alle Speichen erkennbar werden. So löste das unkünstlerische Rad für Duchamp ein künstlerisches Problem: Auch in der schnellen Bewegung bleibt die einzelne Form als Detail sichtbar. Einfluß Die Impulse, die von Duchamp ausgingen, sind vielfältig und in ihren Fernwirkungen kaum überschaubar. Ab 1920 beschäftigte er sich mit kinetischen Objekten, später stieß er zu den Surrealisten. Besonders folgenreich aber war sein Einfluß auf die Künstler, die begrifflich mit dem Kunstverständnis spielten und neue Erkenntnishorizonte erschlossen – wie Magritte und Broodthaers.

HNA 27. 8. 1999

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