Über den Körper zur Kunst

Die Ausstellung als sinnliches Ereignis – Siebter Teil der Serie „documenta als Ort politischer Kunst“

Wie keine andere documenta zuvor wird die kommende aus dem Blickwinkel politischer Fragestellungen vorbereitet. Deshalb gehen wir in einer zehnteiligen Serie der Frage nach, inwieweit die documenta schon früher ein Ort politischer Kunst war.

Das Vorwort, das Jan Hoet 1992 zum Katalog der documenta IX schrieb, liest sich wie ein Glaubensbekenntnis, in dem der belgische documenta-Leiter seinen Glauben an die sinnliche Kraft der Kunst beschwor. Wie kein anderer setzte er auf das „körperlich erfahrbare Geheimnis der Kunst“.
Wenn man wissen wollte, was damit gemeint war, brauchte man 1992 nur die Eingangshalle des Fridericianums zu betreten, in der man sofort umfangen wurde von den aggressiv klagenden Worten eines kahl geschorenen Mannes, dessen sich drehender Kopf auf mehreren Monitoren und Projektionswänden zu sehen war. Die Video-Installation von Bruce Nauman wurde zum Sinnbild eines Menschen, der zugleich ängstlich und gewalttätig wirkt.
Wenige Schritte weiter aber befand man sich mitten im Idyll. In einem Kabinett hatte Marisa Merz einen kleinen Wachsbrunnen geformt, in dessen Mitte eine zart sprudelnde Fontäne zu sehen und zu hören war.
Hoet setzte auf solche Kont-raste. Er, der die Kunst mit allen Sinnen aufsog, wollte auch für die Besucher seiner Ausstellung die Kunst sinnlich erfahrbar machen. Sie sollten angerührt und mitgerissen werden. Jenseits der ästhetischen Dimension sollten sie am menschlichen Schicksal teilhaben, so wie es in der Kunst gespiegelt wurde.
Die documenta IX wollte nicht aufklärerisch sein, sondern wollte provozieren. Insofern verstand Hoet sie auch als ein politisches Ereignis. Gleichwohl blieb die Zahl der Arbeiten, die einen direkten Verweis ins Politische enthielten, überschaubar.
Die Figurengruppe, die Thomas Schütte für das Dach des Portikus direkt neben dem Fridericianum schuf (ein Teil steht heute noch), zählt zu diesen Ausnahmen. Denn die Arbeit entstand vor dem Hintergrund der damaligen Asyldebatte. Sie zeigt auf eine einfache Weise fremde Menschen, die angekommen sind, aber den entscheidenden Schritt in die Gesellschaft nicht tun können. Sie bleiben ausgeschlossen und wirken deshalb wie erstarrt.
Die documenta IX wurde wegen ihrer überbordenden Fülle und ihrer angeblichen Vordergründigkeit vielfach kritisiert. Auf jeden Fall war sie die bislang letzte documenta, die sich zum reinen Erlebniswert der Kunst bekannte.
Unabhängig davon verstand Hoet seine Ausstellung als einen Ort der Freiheit. Damit knüpfte er an das an, was die Gründungsväter der documenta gemeint hatten. Denn diese hatten die von ihnen propagierte Kunst im Gegensatz zu den Werken gesehen, die die totalitären Systeme gefördert und hervorgebracht hatten. Jan Hoet dachte ähnlich und verstand die von ihm ausgewählte Kunst als ein Zeichen der Freiheit, als eine Kraft, die Stellung bezieht und die das Potenzial zur Veränderung in sich trägt. Diese Seite der documenta IX war kaum wahrgenommen worden.
Nächste Woche: Umkehr und Neubesinnung
HNA 15. 3. 2007

Schreibe einen Kommentar