Die Betrachter stehen mittendrin

Vorspann: 1972 schuf Edward Kienholz (1927 – 1994) zur documenta5 seine erschreckende Arbeit „Five Car Stud“: ein begehbares Bild.
Schon immer hatten Maler davon geträumt, mit ihren Werken eine derart plastische Wirkung zu erreichen, daß die Betrachter glauben sollten, die Bilder öffneten sich zum Raum. Die sogenannte Malerei der Augentäuschung zielte in diese Richtung, und immer noch verblüffen die Tiepolo-Deckengemälde, bei denen gebaute und gemalte Architektur auf wunderbare Weise verschmolzen sind.
In unserem Jahrhundert aber gingen einige Künstler einen Schritt weiter: Sie gaben das an die Fläche gebundene Bild auf und schufen innerhalb eines Raumes begehbare Bilder, sogenannte Environments. Erste Ansätze gab es dazu zu Beginn des Jahrhunderts bei den Futuristen und Dadaisten. Ihren entscheidenden Entwicklungsschub erlebte die Kunst des Environments aber in den 60er Jahren durch die Pop-art- und Fluxuskünstler.
Unter denen wiederum war der Amerikaner Edward Kienholz der entscheidendste Impulsgeber. Der Autodidakt Kienholz hatte Holzreliefs geschaffen, ehe er ab 1961 systematisch an seinen Environments arbeitete. Diese an Bühnenbilder erinnernden Bildräume setzte er aus gefundenen (Sperrmüll-)Objekten zusammen – alte Stühle und Sofas, Radios, Puppen, Nippes und anderen Alltagskram. Er baute Wohnzimmer und Kneipen nach, Bordellräume und Denkmäler. Immer handelte es sich um Räume der bedrängenden Enge und Nähe, die verdrängte Wünsche und Ängste alptraumhaft spiegelten. „Roxy’s“ 1961 gebaut und 1968 in der documenta gezeigt, gehörte dazu.
Wie stark sozialkritisch die Arbeiten von Kienholz angelegt sind, offenbarte 1972 der spektakuläre documenta-Beitrag „Five Car Stud“, der in einem Zelt neben der Neuen Galerie in Kassel gezeigt wurde. Im Dunkel des Zeltes erblickte man eine Szenerie, die nur von Autoscheinwerfern erhellt wurde.
Nachgestellt war ein Geschehnis aus dem damaligen amerikanischen Alltag: Mit ihren Autos hatten Weiße einen Farbigen umstellt, den sie nun zu fünft am Boden gefesselt hielten, um ihn zu kastrieren. Als Besucher stand man zwischen den realen Autos und blutrünstigen Puppenmenschen und wurde Teil dieser ebenso faszinierenden wie erschreckenden Anklage der Rassenhetze. Mit „Five Car Stud“ hatte Kienholz die surrealen Elemente zugunsten einer eindeutigen kritisch-realistischen Sprache zurückgedrängt.
HNA 29. 6. 1999

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