Die Video-Kunst erobert die Räume

Die Kunst-Biennale von Venedig ist auf Expansionskurs und wirkt befreit. Die wichtigsten Impulse gehen von den überragenden Video-Arbeiten aus.
VENEDIG Schon Goethe schrieb in seinen „Venezianischen Epigrammen“ über die beiden Löwen, die den Eingang zum Arsenale in Venedig, den Militärhafen am Rande der Altstadt, bewachen. Die Löwen dienen immer noch als Wächter, obwohl das Militärgelände weitgehend seine Bedeutung eingebüßt hat und Teile des Arsenale verfallen sind. Die Kunst weiß dies zu nutzen: Die 48. Kunst-Biennale von Venedig hat Teile des Geländes für sich erobert. Da der Haupteingang aber dem Militär vorbehalten bleibt, müssen sich die Löwen gefallen lassen, daß zwischen ihnen ein Zettel mit der Aufschrift hängt: „no biennale – zone militaria“. Zur Kunst kommt man durch die Hintertür.
Es gehört zum Ritual der Großausstellungen, sich immer neue Räume zu erobern. Harald Szeemann, der 27 Jahre nach seiner viel gerühmten documenta5 nun in der Lagunenstadt die Biennale künstlerisch leitet, hat unmittelbar hinter der phantastischen, langgestreckten (300 Meter) Halle der Corderie die ruinenhaften Gebäude des Arsenale direkt am Hafenbecken besetzen können. Dieser Zugewinn geht aber nicht immer zugunsten der Kunst aus, wenn wie im Falle von Lee Bul oder Job Koelewijn die Ästhetik des Verfalls die künstlerischen Arbeiten überstrahlt.
Einschneidender als die räumliche Expansion ist Szeemanns Entscheidung, auf ein Thema für die zentrale Ausstellung und auf eine Sonderschau jüngerer Kunst zu verzichten. Er hat der Biennale insgesamt eine Verjüngung verordnet und dabei deutlich die Fraktion der Künstlerinnen gestärkt. So vollzieht sich ein Generations- und Szenenwechsel. Allerdings sind junge Künstler nicht immer gleichbedeutend mit neuen Impulsen. Eine Aufbruchsstimmung geht von dieser Biennale nicht aus. Sie ist in vielen Teilen ihrer Zentralausstellung besser als ihre Vorgängerinnen, im Wesentlichen bestätigt sie aber die Tendenzen, die auf den Großausstellungen der vergangenen drei Jahre sichtbar wurden: Der Malerei wird nur eine Randrolle zugewiesen, auch Skulptur und Zeichnung treten zurück. Dafür dominieren die raumbezogenen Arbeiten sowie Installationen und die Video-Beiträge, die im Moment die stärksten künstlerischen Potentiale zu bergen scheinen.
Eine der beiden Video-Installationen, die den Hauptpreis der Biennale errungen haben, Shirin Neshats „Turbulent“ (in der ein konventioneller Sänger und eine experimentelle Sängerin konfrontiert werden), war übrigens vor einem Jahr in der Ausstellung „Echolot“ im Kasseler Fridericianum zu sehen. Auch den „Echolot“-Künstlerinnen Ghada Amer und Kim Soo-Ja begegnet man in Venedig – mit eindrucksvollen Arbeiten – wieder. Überhaupt dokumentiert die Biennale Rene? Blocks sicheren Überblick über die internationale Szene: Die faszinierende Porträt-Installation von Pilotinnen von Simone Aaberg Kaern hatte er schon 1998 präsentiert; auch war die Finnin Eija-Liisa Ahtila, die für ihr Video-Projekt eine lobende Anerkennung erhielt, bereits im Fridericianum vertreten.
Nur noch in Ausnahmefällen besteht eine Video-Arbeit aus einem Bildschirm, auf dem ein Film abgespult wird. Preisträger Doug Aitken schuf aus acht Videowänden eine Abfolge von Räumen, in denen man in die widersprüchlichen Bilder und Stimmungen aus Großstadt- und privater Welt hineingezogen wird. Ebenso komplex und faszinierend ist das zweistöckige Kartonhaus mit zahllosen Standbildern und Videos von Costa Vece. Eine ganz ruhige, Schwebezustände und Zwischentöne provozierende Installation plazierte Rosemarie Trockel in den drei Räumen des deutschen Pavillons, wobei der mittlere Videofilm, der in Großaufnahme nur ein Auge zeigt, etwas zu didaktisch auf die Wahrnehmungs-Erwartung verweist.
Die zentrale Ausstellung leidet darunter, daß Szeemann über ein Dutzend chinesischer Künstler einlud, von denen höchstens die Hälfte mit Werken aufwartet, die bereichern oder zur Diskussion einladen. Daß der Goldene Löwe für den besten nationalen Pavillon an den Beitrag von fünf italienischen Künstlerinnen vergeben wurde, kann man nur als eine Aufforderung verstehen, künftig auf nationale Präsentationen zu verzichten: Harald Szeemann hat nämlich den bislang räumlich übermächtigen italienischen Pavillon aufgelöst und die Arbeiten der fünf jungen Italienerinnen in die Zentralausstellung integriert. So ist die Abschaffung des Pavillons geehrt worden. Dirk Schwarze
HNA 17. 6. 1999

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