Wo die Städte sich verlieren

An den Rändern der Gesellschaft – Achter Teil unserer Serie „documenta als politischer Ort“
Wie keine andere documenta zuvor wird die kommende aus dem Blickwinkel politischer Fragestellungen vorbereitet. Deshalb gehen wir in einer zehnteiligen Serie der Frage nach, inwieweit die documenta schon früher ein Ort politischer Kunst war.

Die Urteile standen fest, bevor die Ausstellung überhaupt ihre Tore öffnete: Die documenta X (1997) sei theorielastig, unsinnlich und zeige nur kleine Fotos und schwer konsumierbare Videos. Und der Vorwurf an die künstlerische Leiterin Catherine David lautete, die Französin habe möglicherweise gar kein Verhältnis zur Kunst. Lieber wende sie sich der Literatur und dem Film zu.
In der Tat war der Einschnitt tief, der mit der documenta X erfolgte. Nachdem Jan Hoet fünf Jahre zuvor die Fülle der international gängigen Kunst ausgebreitet hatte, wandte sich die documenta X den Grundlagen der zeitgenössischen, von den ausufernden Städten geprägten Kultur zu. Catherine David hatte für ihr Konzept den Begriff der Retroperspektive gewählt. Damit verglich sie den Kunstbetrachter mit einem Autofahrer, der beim nach vorne Schauen mithilfe des Rückspiegels immer auch den Blick zurück im Sinn haben muss.
Daher wandte sie sich bei der Auswahl der Werke auch Werken zu, die 20 oder 30 Jahre zuvor geschaffen worden waren, aber in ihrer Radikalität und mit ihrer kritischen Dynamik noch gar nicht richtig erkannt worden waren. Dabei handelte es sich vorwiegend um politisch-aufklärerische Arbeiten wie etwa die Text-Foto-Serie von Hans Haacke, in der er 1971 die Transaktionen von Immobilien-Spekulanten in Manhattan dokumentierte.
Zugleich machte die Ausstellung mit Künstlern bekannt, die ähnlich wie Joseph Beuys in Deutschland in den 60er- und 70er-Jahren den Kunstbegriff erweitert hatten und das Publikum aus seiner passiven Betrachterrolle herauszuholen versuchten. Es waren insbesondere die Arbeiten von Lygia Clark und Hélio Oiticica, die eine neue Dimension sinnlich-sozialer Kunst präsentierten.
Wer bereit war, sich diesen neuen Zugängen der Kunst zuzuwenden und jenseits des Kunstmarktes Entdeckungen zu machen, wurde reich belohnt. Bereits die drei im Vorfeld der documenta erschienenen Magazine „documenta documents“ und das Katalogbuch hatten verdeutlicht, dass es der Ausstellungsleitung um eine Bestandsaufnahme der Kultur am Ende des 20. Jahrhunderts ging – gespiegelt durch die künstlerischen Reflexionen über das Wuchern der Städte und den Zerfall ihrer Formen an den Rändern. Dabei blickte Catherine David über den engen Rahmen der Kunst hinaus und bezog die unterschiedlichsten kulturellen Beiträge ein. Das Forum dafür war die Diskussionsreihe „100 Tage – 100 Gäste“, in der neben Künstlern und Kuratoren auch Dichter, Regisseure und Wissenschaftler zu Wort kamen.
Was viele Kritiker bis zuletzt als Irrweg und Sackgasse bezeichnet hatten, erwies sich als erfolgreicher Versuch, die documenta und die Auseinandersetzung mit der Kunst auf ein neues Fundament zu stellen. Roger Buergel, Leiter der kommenden documenta, weist darauf hin, dass Catherine David mit ihrem Konzept dem Ansatz von Arnold Bode sehr nahe kam.
Nächste Woche: Die fünf Plattformen
HNA 21. 3. 2007

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