Die FAZ-Fotografin Barbara Klemm (Jahrgang 1939) zeigt in einer Ausstellung der Neuen Galerie in Kassel Künstlerporträts, die in drei Jahrzehnten entstanden sind.
KASSEL Der Pop-Art-Künstler Andy Warhol 1981 im Frankfurter Städel vor dem berühmten Goethe-Gemälde von Tischbein. Zwei Künstler begegnen sich: Der Zeitgenosse Warhol erscheint mit seinen verschatteten Augen und seinem knochigen Gesicht fast wie ein Toter; dagegen wirkt der tote Goethe durch das Bild wie ein Lebender. Als Barbara Klemm Warhol im Städel porträtierte, hielt sie mehr als eine Zufallsbegegnung fest. Denn Warhol, der die klischeehaften Bilder von Stars sich aneignete und malerisch-plakativ umformte, begann in diesem Jahr, sich mit diesem Goethe-Bild auseinander zu setzen. Die Art und Weise, in der Barbara Klemm den verlebten Künstler porträtierte, ist singulär und gerade deshalb wieder typisch. Sie zwingt die Künstler, denen sie begegnet, nicht in ein fotografisches Konzept, sondern sucht jedes Mal einen eigenen und lebendigen Zugang. Das eine Bild deutet eher auf eine verabredete Inszenierung, das andere hingegen lässt auf ein spontanes Dokument schließen. Aber ein Gestaltungsmittel ist durchgängig: Immer wird der Mensch, der Künstler, in der Welt gezeigt, in der er sich bewegt. In den meisten Fällen ist es das eigene Atelier, der Ausstellungsraum oder das Arbeitszimmer. Das heißt, dass es der Fotografin gar nicht immer darum geht, den Charakterkopf ins Bild zu bringen. Vielmehr liegt ihr daran, den ganzen Menschen, seine Haltung und sein Verhältnis zum Raum festzuhalten. Selbstbewusst mit der Hand in der Tasche und doch leicht zurückgenommen stellte sich Emil Schumacher vor seiner Staffelei der Fotografin. Die Eimer mit den Bergen vertrockneter Farbe deuten auf sein sinnliches Verhältnis zur Malerei. Noch selbstbewusster erscheint Georg Baselitz in seinem wohl geordneten Atelier mit Bildern und Skulpturen, in dessen Mitte er sich besitzergreifend gestellt hat. Barbara Klemm lässt auf eine unaufdringliche, fast beiläufige Art die Charaktere sichtbar werden. In den Bildern spiegeln sich Arbeitshaltung und Selbstverständnis. Friedrich Dürrenmatt wirkt verschwindend klein, wenn er sich über seine riesige Schreibtischplatte beugte (1980). Ingeborg Bachmann, die Barbara Klemm 1971 fotografierte, erscheint hingegen nervös und flüchtend. Dieses Porträt der Schriftstellerin gehört zu den Bildern, die vom Geist der Spontaneität leben. Genau dadurch wird die Reihe der Künstlerporträts so faszinierend dass jedes Bild seinen eigenen Pulsschlag hat. Fehlstelle Zur Eröffnung der Ausstellung in der Neuen Galerie meinte der Direktor der Staatlichen Museen Kassel, Hans Ottomeyer, dass die Präsentation künstlerischer Fotografie in Kassel Defizite habe. Richtig ist, dass die Neue Galerie als Museum (auch) für zeitgenössische Kunst nur selten mit Foto-Ausstellungen aufwartet. Allerdings ist nicht richtig, dass die Fotokunst in den Kasseler Ausstellungshäusern unterbelichtet wäre. Denn bevor noch manche Museen überhaupt die Fotografie zur Kenntnis nahmen, gab es in Kassel eine viel beachtete Ausstellungsreihe des Fotoforums der Kunsthochschule in den 70er Jahren und die denkwürdige Aufarbeitung der Fotogeschichte in der documenta von 1977; ganz zu schweigen von den vielfältigen Ausstellungen im Fridericianum und im Kunstverein. Nun wäre es erfreulich, wenn Ausstellungen wie die von Barbara Klemm dazu beitragen könnten, die Fotokunst in der Neuen Galerie dauerhaft zu etablieren. Immerhin gibt es durch die Arbeiten von Richter, Warhol, Hamilton und Grossarth innerhalb der Sammlung Anknüpfungspunkte zur Auseinandersetzung mit der Fotografie.
HNA 27. 5. 2000