Eine ebenso liebenswürdige wie kunsthistorisch spannende Ausstellung präsentiert das Kasseler Museum Fridericianum: Briefe von James Lee Byars (1932-1997) an Joseph Beuys (1921-1986).
KASSEL Man stelle sich vor: Man erhält per Post einen dicken Brief. Hat man ihn geöffnet, holt man ein zerknülltes schwarzes Seidenpapier heraus. Das erweist sich, wenn man es entfaltet, als endlos lang. Hat man es schließlich geglättet, entdeckt man darauf einen mit Goldstift geschriebenen Text, der in großen Buchstaben wie ein Gedicht zu lesen ist. Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt steht da unter anderem: Sagenhafter Joseph, jetzt gebe ich Dir meinen genialen Brief. Documenta 6 prustet und schnauft. Lass uns sie eröffnen, als eine neue Feiertagszeremonie der Menschheit….. Der Düsseldorfer Künstler Joseph Beuys hat in seinen letzten zwölf Lebensjahren weit über hundert solcher Briefe von dem Performance-Künstler James Lee Byars erhalten. Jeder dieser Briefe hatte eine andere Form, ist also ein Objekt. Mal hatte Byars unterwegs zum Briefpapier der Hotels oder Galerien gegriffen, in denen er sich gerade befand, noch häufiger wählte er aber sorgsam weiße, rote oder schwarze Papiere. Er beschrieb endlose Bänder und zerknüllte sie, formte ein Herz oder einen Phallus und faltete die Papiere oder schnitt (in Erwartung der documenta 7) eine Schwarze Sieben aus. Die Texte, die Byars schrieb, waren genauso feierlich, pathetisch und ironisch wie seine Performances, die er vor und in den Museen zelebrierte. Vor allem waren die Briefe überschwängliche Liebeserklärungen an die Kunst und an Beuys. Wüsste man nicht, dass jeder der vielen Briefe (auch an andere) Teil seiner künstlerischen Aktion war, könnte man meinen, James Lee Byars hätte um Beuys geworben. Doch genau solche Täuschungen waren Teil des Spiels. Joseph Beuys übrigens hat diese Briefe nie beantwortet. Schon deshalb nicht, weil er kein Schreiber war. Er redete und telefonierte lieber. Aber er hat die Briefe ernst genommen und sie sorgsam seinem Archiv überlassen. So blieb für uns das Zeugnis einer Künstlerfreundschaft erhalten, die merkwürdig einseitig erscheint. Doch dieses Bild trügt. Die beiden Aktionskünstler kannten und schätzten sich seit Ende der 60er-Jahre. Sie planten gemeinsam öffentliche Auftritte und fühlten sich durch den gemeinsamen Wunsch verbunden, die Grenzen zwischen Kunst und Leben zu überwinden. Sehr starke gemeinsame Erinnerungen verknüpften sich für beide Künstler mit der documenta 5 (1972) von Harald Szeemann. Joseph Beuys diskutierte während dieser documenta 100 Tage lang im Fridericianum über Politik und Kunst, während Byars die Stadt mit seinen Performances auf dem Dach des Fridericianums und auf Bäumen und Denkmälern in Atem hielt. Byars strickte aus diesen Erinnerungen eine Legende, aus der er den Wunsch und die Forderung ableitete, die Künstler und allen voran Joseph Beuys sollten die documenta selbst in die Hand nehmen. Byars steigerte sich derart in diese Idee hinein, dass er schließlich 1983 dem damaligen Kasseler Oberbürgermeister Hans Eichel vorschlug, Joseph Beuys solle die documenta 8 leiten. Es fasziniert, im Katalog nachzulesen, wie oft und intensiv Byars Gedanken die documenta umkreisten und wie viele Varianten seines Vorschlags er fand. Schon aus diesem Grunde musste diese Ausstellung auch nach Kassel kommen. Erklärlich wird dieses Klammern an Großausstellungen wie documenta und Biennale von Venedig dadurch, dass der durch die Welt vagabundierende Künstler im Grunde heimatlos war. Die Ausstellungen verhalfen ihm nicht nur zur Bühne, sondern auch zur Erfüllung der Existenz. Genauso erschütternd ist aber auch, wie sehr und existenziell seine Gedanken und Visionen um den Tod kreisten um den Tod von Beuys (zu dessen Lebzeiten) und seinen eigenen.
HNA 2. 11. 2000