Am Sonntag erhält das in New York lebende Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude den Kasseler Bürgerpreis Das Glas der Vernunft für ihre Grenzen überwindende Arbeit.
KASSEL Nicht das Naheliegende zu verwirklichen, sondern das Unmögliche möglich zu machen. Das ist ein Prinzip, das Christo und Jeanne-Claude mit ihrer gemeinsamen künstlerischen Arbeit seit über 30 Jahren verfolgen. Wer eine solche Strategie verfolgt und dabei auch noch in die Öffentlichkeit hinein wirken will, muss auch bereit sein, Widerstände hinzunehmen und vor Hürden zu gelangen, die im ersten Anlauf nicht zu überwinden sind. Ein Paradebeispiel dafür ist der Reichstag in Berlin: Im Jahre 1971 entwickelte Christo die Idee, das provisorisch wieder aufgebaute Gebäude, das damals in nächster Nachbarschaft zur Berliner Mauer stand, zu verhüllen. In der Folgezeit fertigte er eine Vielzahl von Zeichnungen und Collagen an, die diese großartig wirkende Vision vorstellbar machten. Trotzdem schienen die politischen Umstände dagegen zu sprechen die Nähe zur DDR-Grenze und die Bedenken der westdeutschen Entscheidungsträger. Aber Christo und Jeanne-Claude gaben nicht auf und hatten auf einmal nach der Wende und vor dem Umbau des Reichstages ihre große Stunde. Und dann war es im Juni 1995 so weit: Der Bau von Paul Wallot hatte sich in ein gewaltiges, silbern glänzendes Monument verwandelt, in eine Riesenskulptur, die an eine Festung erinnerte. Selbst einstige Gegner der Kunstaktion waren von der Schönheit überwältigt. Man hatte das Gefühl, die Berliner und alle Deutschen hätten ein Geschenk erhalten, um das sich herum täglich Hunderttausende versammelten. Die Reichstags-Verhüllung war weder größte noch spektakulärste Arbeit des Künstlerpaares. Da es aber um den Mythos Reichstag (mit all seinen Widersprüchen) ging, war die Aktion selbst zum Mythos geworden. Für ein paar Tage hatte die Kunst Besitz von dem Gebäude ergriffen. Eben für dieses Vermögen, aus einer Vision ein Projekt zu entwickeln, mit dessen Hilfe die Grenzen zwischen Leben und Kunst aufgehoben werden und die Kunst Teil des Lebens wird, erhalten Christo und Jeanne-Claude den Kasseler Bürgerpreis. Sie bringen Poesie in den Alltag und sie verändern unser Sehen. Die Idee, Dinge in eng verschnürte Pakete zu verwandeln und Gebäude oder Landschaftselemente zu verhüllen, entstand bereits Ende der 50er-Jahre. Doch der erste öffentliche Großauftritt vollzog sich 1968 bei der documenta in Kassel, als Christo und Jeanne-Claude das Projekt Verpackte Luft (5600-Kubikmeter-Paket) erst im vierten Anlauf realisieren konnten. Schon damals wurde sichtbar, was für sie wesentlich zum Konzept gehörte die Widerstände überwinden und nicht voreilig aufgeben. Der Erfolg gab ihnen recht. Außerdem bescherte die sich hinziehende Aktion der documenta den Übergang zu einer Ereignis-Ausstellung.
HNA 28. 9. 2000