Gefangen in Widersprüchen

documenta-Leiter Roger M. Buergel zwischen Qualitätssuche und Zwang zum Besuchererfolg

KASSEL. Die Geschichte der Kasseler documenta ist, was die Besucherzahl angeht, eine einzige Erfolgsgeschichte. Von Mal zu Mal ist der Zuspruch zur documenta größer geworden. Im Laufe der Jahre steigerte sich die Besucherzahl von 130\x0f000 (1955) über 379\x0f000 (1982) auf 651\x0f000 (2002).
Was für die Institution und die Stadt schön ist, wirkt aus der Sicht des jeweils nächsten documenta-Leiters katastrophal. Denn er fühlt sich nicht als Chef einer Tourismus-Messe, der mit jeweils höheren Erfolgsmeldungen aufwarten soll, sondern als der Organisator einer Ausstellung, die qualitativ möglichst überzeugend sein und möglichst alle Besucher mit ihrer Botschaft erreichen will.
Also möchte die documenta-Leitung am liebsten den Gedanken an die Steigerung der Besucherzahlen verdrängen, weil sie sich unter einen falschen Erfolgsdruck gesetzt fühlt. Das heißt: Jeder weiß, dass dann, wenn die documenta 12 deutlich weniger als 600\x0f000 oder gar 500\x0f000 Besucher hätte, die Ausstellung sofort als Misserfolg verbucht würde.
Vor diesem Hintergrund ist die Äußerung von documenta-Leiter Roger M. Buergel zu verstehen, der, wie gemeldet, in einem Interview sagte: „Die Frage mit den Zuschauerquoten ist eher stupide.” Selbst wenn er insgeheim auf 700\x0f000 Besucher oder mehr hoffen würde, muss er diese und ähnliche Erwartungen abwehren, um dann, wenn es sehr viel weniger werden, nicht als Verlierer dazustehen.
Es gibt aber auch noch ein weiteres Argument gegen die großen Besuchermassen: Irgendwann wird im Gedränge die Qualität der Ausstellung nicht mehr sichtbar. Und was würde es bringen, wenn noch 100\x0f\x0f000 mehr durch die Ausstellungsräume geschleust würden, die eEnzelnen aber gar keine Chance hätten, die Werke wirklich zu betrachten?
Um die Werke auch für große Gruppen erlebbar zu machen, will Roger Buergel im Museum Fridericianum und in dem 12\x0f000 Quadratmeter großen Aue-Pavillon große Räume und Säle schaffen. Die Gruppen sollen sich gut aneinander vorbeibewegen können und Platz zur Betrachtung haben. Auch soll es Zwischenräume (Palmenhaine) zur Reflexion und Diskussion geben. Das bedeutet: Um seinem ehrgeizigen Vermittlungsprojekt eine Chance zu geben, nimmt Buergel mehr Flächen in Anspruch, als er nach normalen Maßstäben brauchte. Außerdem lässt dieses Konzept erkennen, dass Buergel sehr wohl mit einem starken Andrang rechnet und er sich auf einige hunderttausend einstellt.
Eine Mindestgröße (500\x0f000 bis 600\x0f000) wird auch benötigt, damit durch den Karten- und Katalogverkauf die notwendigen Eigenmittel hereinkommen. Die Größe des Unternehmens braucht eine gewisse Masse. Unter diesen Widersprüchen leidet der documenta-Leiter. Doch als er den Job annahm, wusste er, welchem Erwartungsdruck er ausgesetzt sein würde.
Andererseits beginnt er ja nicht bei null: Es kommen mit Bestimmtheit nicht nur die 1001 Chinesen, die Ai Weiwei eingeladen hat, sondern schon jetzt haben sich zahlreiche Kunstvereine und Einzelbesucher in den Hotels zur documenta eingebucht, ohne dass sie im Geringsten wissen, was zu sehen sein wird.
HNA 3. 4. 2007

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