Kunst – an den Strand gespült

Als letzte Ausstellung vor der documenta-Pause zeigt die Kunsthalle Fridericianum unter dem Titel Kassel am Meer Arbeiten von zwölf hier ansässigen Künstlern.

KASSEL Im Laufe seiner vierjährigen Kuratorenzeit in Kassel hat der Direktor der Kunsthalle Fridericianum, René Block, mit seinen Ausstellungen mindest einmal die Welt umrundet. Er hat viele international wichtige Künstler vorgestellt und auch bereichernde Themen-Ausstellungen wie Chronos & Kairos“ (zum Verhältnis von aktueller Kunst und Zeit) geschaffen. Dabei war wahrscheinlich die erste Ausstellung, die unter dem Titel Echolot neun Künstlerinnen zusammenführte, die im internationalen Dialog stehen, das am stärksten in die Zukunft weisende Projekt. Mit Ablauf des Jahres endet planmäßig das Kunsthallen-Zwischenspiel, weil das Fridericianum dann für die Documenta 11 geräumt werden muss. Da ist es eine schöne Geste, dass sich die Kunsthalle zum Schluss der örtlichen Kunstszene öffnet. René Block und seine Mitarbeiter Barbara Heinrich, Tobias Berger und Regina Bärthel haben gleichberechtigt je drei Künstler ausgewählt. Es sind ältere und international erfolgreiche wie Urs Lüthi (Jahrgang 1947) darunter und jüngere wie der Kunststudent Milen Miltchev (Jahrgang 1973). Als Titel wählte das Team ein Motto, das ebenso irritierend wie poetisch klingt: Kassel am Meer. Zur Bekräftigung wurde ein anrührendes Bild vom Kasseler Hafen in den Katalog aufgenommen. Die Fulda verbindet zwar über die Weser Kassel mit der Nordsee. Wenn man aber bedenkt, dass in der Stadt der Fluss kaum wahrgenommen wird, verbindet sich mit dem Titel eher ein Sehnsuchtsgefühl. Dieser Eindruck ist gar nicht so schlecht, denn mit Kassel am Meer knüpfen die Veranstalter an poetische Träume des Malers Werner Heldt und der Dichterin Ingeborg Bachmann an. Folgt man dem Titel, dann ist das Fridericianum der Strand, an den die Kunst gespült wurde. Dieses Wortspiel trifft insoweit zu, als alle zwölf Künstler, die hier vorgestellt werden, nicht aus Kassel stammen, sondern irgendwann dort landeten. Wissend, dass es über diese zwölf Auserwählten hinaus eine Fülle anderer künstlerischer Talente in der Stadt gibt, kann man der Team-Entscheidung zustimmen: Die Ausstellung überzeugt, bietet Reibungsflächen und spricht für eine lebendige Szene. Roter Faden Immerhin gibt es einen roten Faden, der durch die Ausstellung führt. Das ist die Auseinandersetzung mit der Kunst und dem Bild. Die radikalste Position bezieht Jürgen O. Olbrich, der der gegebenen Bilderflut nichts hinzufügt, sondern in zwei Abteilungen das zusammengetragen hat, was in Copy-Shops und in Foto-Großlabors im Abfall landet. Seine 91 (thematisch geordneten) Alben mit aussortierten Amateurfotos veranschaulichen nicht nur die alltäglichen Bilderberge, sondern bilden ein einzigartiges Zeitpanorama ab. Auf eine völlig andere Weise reagiert Urs Lüthi auf die Glücksverheißungen der Fotowelt. Er bläst die Fotos in einer ästhetisch faszinierenden Installation zu Querformaten auf und kommentiert sie durch Text-Versatzstücke. Philipp Hennevogel und Henning Bohl setzen in Linolschnitt und Zeichnung außerhalb der Stile figürliche Situationen um. Und Norbert Bayer sowie Milen Miltchev übersetzen in der Auseinandersetzung mit Malerei digitalisierte Darstellungen in Steckbilder und Farbstiftzeichnungen. Hier sind auch Peter Anders Kompositionen zu nennen, unter deren glatten Wachsflächen sich beunruhigende Motive verbergen. Überhaupt überrascht, wie stark die Zeichnung und die Malerei (nicht im klassischen Sinne) vertreten sind. Hervorragende Blätter präsentiert auch Anett Frontzek. Eine frühe und zwei neue Arbeiten dokumentieren Kazuo Katases konsequente Beschäftigung mit Licht, Farbe und Mythen. Katrin Leitner frappiert mit ihren Fotofundstücken dunkler Ecken im Fridericianum, die sie mit kleinen Elementen ihrer Malerei kommentiert. Martina Fischer irritiert die Besucher mit Geräusch-Installationen, die die Fantasie beflügeln. Und Wolfram der Spyra hat einen für Auge und Ohr großartigen Stahl-Klang-Auftritt in der Rotunde. Der Rundgang wird zum Erlebnis.
HNA 13. 10. 2001

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