Ruth Noacks und Roger Buergels Bilanz

„Das hat etwas Beglückendes“

Roger M. Buergel und Ruth Noack sehen in der Reaktion der Besucher einen Gewinn der documenta 12.

Kurz vor Schluss – wie ist Ihre Stimmungslage? Euphorisch?

Ruth Noack: Eher ein bisschen traurig, weil ich noch mit so vielen Terminen zu tun habe. Die Ausstellung ist mir so zwischen den Fingern zerronnen, ehe ich ihrer habhaft geworden bin. Da ist schon so ein Moment der Nostalgie.

Roger M. Buergel: Ich bin nicht wehmütig. Ich finde gut, dass es zu Ende ist. Ich bin auch einfach mit meinen Kräften am Ende. Für uns war das Arbeiten mit dem Publikum sehr wichtig. Das hat etwas Beglückendes, wenn man merkt, dass da tatsächlich etwas entsteht, aber es kostet viel Kraft.

Was ist Ihr Fazit?

Buergel: Wirklich großartig war, wie das Publikum mitgezogen ist. Ich hab‘ gemerkt, dass die Leute gefordert werden können. Es gibt eine unglaubliche Neugier, eine Vorurteilslosigkeit, sich auf Dinge einzulassen. Das stimmt mich hoffnungsfroh. Auch Kontroversen sind sinnvoll und richtig. Ich glaube, man muss diesen experimentalen Aspekt der Ausstellung, das Moment des Risikos, der Zerbrechlichkeit, des Zufalls erhalten. Bei documenta gibt es immer die Tendenz, zum monumentalen Ausdruck zu neigen und auf Nummer sicher zu gehen. Den Zwang, etwas repräsentieren zu müssen, nach dem Motto „The bigger the better“ (je größer, desto besser, d. Red.)

Noack: Ich habe sehr viel über die Frage diskutiert, ob zu wenig Informationen da sind. Also Texte an der Wand oder nicht. Das war durchaus gespalten. Die, die aus Kassel kamen, haben sich aufgerufen gefühlt, selbst nach Verknüpfungen zu suchen. Sie wurden zu Spezialisten. Das Kasseler Publikum hat so genau beobachtet. Das ist richtig mitgegangen. Auch die Kritik war viel differenzierter als oft von Seiten der Presse.

Die Medienkritik wurde immer heftiger. Wie nahmen Sie das wahr?

Buergel: Wir haben im Vorfeld eine Verführungsstrategie gefahren. Das haben die Medien mitgemacht, weil es auch eine Sehnsucht nach einem anderen Modell gab. Aber mir war klar, dass es nicht so nordkoreanisch weitergehen würde. Wir sind ja nicht naiv und hatten frühere Pressespiegel angeschaut. Was ich nicht wusste, ist, wie anspruchslos das Feuilleton ist, wie wenig argumentiert wird. Seine Rezeptionsweise geht noch von geschlossenen Systemen wie „dem Westen“ oder „der Bundesrepublik“ aus. Es ist immer noch einer Mentalität verhaftet, die unserer Lebenssituation nicht mehr entspricht.

Die Kritik gipfelte darin, die Künstlerauswahl sei „privatistisch“.

Buergel: documenta ist aus ihrem Geist heraus dem Autorinnen- und Autorenprinzip verhaftet. Damit hat man das Element des Privaten fast automatisch. Das muss man auch bedienen. Sonst hätte man uns vorgeworfen …

Noack: … es gibt keine Handschrift.

Buergel: Das ist genau das, was man sonst überall sieht. Dann muss man sich klarmachen, dass es in der Welt ein Spektrum von Öffentlichkeitsmodellen gibt, die im Westen nicht bekannt sind. Das sind Sachen, die uns privat dünken, die aber nicht privat sind. Ein Beispiel sind Bela Kolarova oder Bartuszova: eine Häuslichkeit, die die Keimzelle einer Dissidentenkultur ist. Da haben sich Gegenöffentlichkeiten formiert, wie auch in Argentinien, in China. Diese Werke holen die Privatheit in die Ausstellung. Das ist ein wichtiger Aspekt für eine künftige Öffentlichkeit im Westen. Es ist klar, dass kapitalistische Strukturen immer reinregieren: Es macht kaum noch einen Unterschied, ob wir im Büro schlafen oder zuhause arbeiten. Das geht alles ineinander über. Wir sind gehalten, auch die ethischen und zwischenmenschlichen Qualitäten permanent einem Verwertungsprozess zuzuführen. Da kann es interessant sein zu lernen, Nein zu sagen. Da bekommt dieses Moment der Privatheit ein progressives Motiv.

Noack: Der Vorwurf, dass die Auswahl esoterisch ist, relativiert sich sehr, wenn man sich stärker kundig macht über die jeweiligen Biografien. Es ist klar, dass Sakarin Krue-on in Thailand sehr etabliert ist und einen Markt hat. Oder dass Konaté eine Akademie leitet. Das sind ja nicht irgendwelche Personen. Wir haben aber auch die Stars, die wir haben, nicht als Stars inszeniert. Bei Gerhard Richter haben die Leute erwartet, dass wir den roten Läufer ausrollen. Ich fand ihn perfekt inszeniert.

Hätten Positionen stärker sein müssen oder nicht so stark vertreten sein dürfen?

Buergel: Wir hätten Juan Davila helfen müssen, das heißt mehr spanische Inquisitionsmalerei zeigen müssen, um deutlich zu machen, dass das kein individueller Spinner ist, sondern dass es um eine Grammatik geht, die er nicht erfindet, sondern aufnimmt. Bei den Indern waren wir sorgfältig. Davila haben wir ein bisschen allein gelassen. Manche Dinge haben wir auch nicht bekommen.

Noack: Wir haben das Transportbudget sowieso massiv überzogen.

Haben Sie auf die Leitfrage „Was tun?“ eine Antwort bekommen?

Noack: Das ist nicht unsere Aufgabe, sondern die des Publikums.

Und, hat das Publikum eine Antwort?

Noack: Ja, ich hab‘ schon das Gefühl. In Kassel ist sehr viel passiert, was an die Aktivitäten des Beirats angeknüpft ist. Ich komme gar nicht mehr hinterher. Die Kasseler haben sich wirklich zu Experten gemacht.

Haben Sie eine Erklärung?

Noack: Manchmal genügt es schon, offen für das Publikum zu sein. Zu sagen: „Wir wollen euch! Wir legen Wert darauf.“ Und durch die jahrelange documenta-Erfahrung ist das Kasseler sowieso ein gebildetes Publikum. Jetzt würde mich interessieren, wie diese Bildung von Öffentlichkeit sich weiterentwickelt – jenseits der Abbildung von Medien. Das müsste fortgeführt werden und eine Form bekommen. Aber das könnte wahrscheinlich nur ein Museum leisten, das die Fragen aufnimmt und weiter arbeitet.

Diese Dialogmöglichkeit einer documenta bricht leider erfahrungsmäßig ab.

Buergel: Aber auch ich habe viele Dinge erst in der Reflexion erfahren. Die Ausstellung war nicht am 16. Juni durchkonzeptualisiert. Vieles macht man hypothetisch, weil man sagt, so könnte sich ein sinnvoller Kanon für ein Museum des 21. Jahrhunderts bilden. Durch die Energie des Publikums denkt man weiter nach. Der eigene Bildungsprozess setzt sich fort. „Was tun?“ würde ich im Sinne einer Verfeinerung der Methoden denken. Zur Idee der Kommunikation der Formen, zu den Korrespondenzen, kenne ich, wenn man global arbeiten will, keine Alternative.

Glauben Sie, dass die documenta mit ihren Rahmenbedingungen gut fährt? Oder müsste sich etwas ändern?

Buergel: Schwer zu sagen, weil es von den Bedürfnissen der künstlerischen Leitung abhängt. Natürlich ist die Organisationsform enorm prekär.

Noack: Absurd prekär.

Buergel: Aber das ganze moderne Leben ist absurd. Die Frage ist: Was macht man daraus? Führt nicht stärkere Formalisierung dazu, dass radikale Setzungen verunmöglicht werden? Da gibt es keine goldene Antwort. Man muss sich klar darüber sein, dass documenta jederzeit komplett an die Wand fahren kann. Dass es aber auch großartig sein kann und weiterhin die Imagination sehr vieler Leute beeinflussen und bestimmen wird.

Noack: Das ist eine Gratwanderung. Wenn die Sachen vorgeformt sind, hat man kaum Bewegungsfreiheit. Auf der anderen Seite: Wenn wir ein halbes Jahr früher mit der Geldbeschaffung hätten anfangen können, mit einer Person mehr, hätten wir ohne Weiteres eine Million mehr einfahren können. Das Geld liegt – international – auf der Straße. Aber man muss zum Beispiel bei Stiftungen rechtzeitig die Anträge schreiben, nachtelefonieren – und zu dem Zeitpunkt, wo das Team aufgebaut ist, sind diese Möglichkeiten vorbei. Aber es heißt andererseits, dass man sehr aktuell sein kann.

Buergel: Es kann auch sein, wenn mein Nachfolger Adele Piepenbrink aus Buxtehude wird, dass sie diese Million gar nicht will. Sie will einfach nur Papierflieger der Klasse 4b aus der Reformschule zeigen. Das ist ja in documenta möglich.

Noack: Man stöhnt zwischendurch. Aber insgesamt sind wir froh darüber, wie es war. Über die Freiheit, die es sonst kaum irgendwo gibt. Es hängt vom Geschick des Leiters oder der Leiterin ab, wie diese Freiheit genutzt wird.

Sie sind noch ein halbes Jahr hier?

Buergel: Mein Vertrag endet im März 2008.

Noack: Bis zum Ende des Schulhalbjahres.

Buergel: Wahrscheinlich muss ich noch Teller waschen.

Durch den Besucherrekord sind Sie bei der Finanzierung doch sicher im grünen Bereich?

Buergel: Wir waren vorsichtig von einer konservativen Schätzung ausgegangen, deutlich unter den Besucherzahlen der letzten documenta.

Haben Sie sich schon entschieden, was danach kommt?

Buergel: Ja. Aber das behalte ich noch privat.

In Deutschland?

Buergel: Auch. Ich bleib‘ global aufgestellt.

Wo werden Sie sich erholen?

Buergel: Wir wohnen doch in einem Kurort … Zehn Stunden in der Therme.

Noack: Nein, wir haben zwei Jahre keine Familienferien gemacht. Wir fahren in den Herbstferien zehn Tage ganz banal nach Spanien. Billig und sonnig.

Von Dirk Schwarze, Werner Fritsch und Mark-Christian von Busse

HNA 22.9. 2007

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