Joseph Beuys, unser Lehrer

Joseph Beuys war wie ein Lehrer. Wir, die wir mit ihm sprachen oder die Entwicklung seines Werkes beobachteten, waren die Schüler. Mit jedem Gespräch und jedem neuen Werk mussten wir uns auf neuen Stoff, neue Zusammenhänge einlassen. Wer von uns damals Jüngeren hatte schon über direkte Demokratie und Volksabstimmungen nachgedacht, bevor Beuys im Sommer 1972 sein Büro zur documenta 5 eröffnete? Lernen mussten wir auch 1977, als Beuys mit seinen Mitstreitern im Museum Fridericianum unter der Honigpumpe über die praktische Umsetzung der Ideen zu Gesellschaft, Wirtschaft, Bildung und Kultur diskutierte. Vor allem erahnten wir, welche neue Begrifflichkeit von Skulptur Beuys entwickelt hatte und wie sich diese Skulptur zur Gesellschaft hin öffnete: Die durch den Schlauch gepumpte Lebensspeise Honig wurde dabei zum Symbol des notwendigen gesellschaftlichen Austausches und der Erneuerung.

Nicht viel anders war es fünf Jahre später, als sich Joseph Beuys zur documenta 7 entschied, das Museum zu verlassen, während Rudi Fuchs eigentlich die Künstler und ihre Werke ins klassische Museum zurückholen wollte. Nun mussten wir uns auf einmal mit den Bäumen, ihren Pflanzzeiten und Pflanzorten, den botanischen und bürokratischen Widerständen, und mit den von der Natur geschaffenen Skulpturen, den Basaltsäulen aus vulkanischem Gestein, befassen. Wir lernten mühsam und brauchten Jahre, um zu verstehen, dass Beuys ein die Generationen übergreifendes Werk schaffen wollte.

Erst einmal mussten wir begreifen lernen, was es heißt, 7000 Bäume und 7000 dazugehörige Basaltsäulen zu beschaffen, zu finanzieren und in die Erde zu bringen. Obwohl Beuys in jedem Gespräch, wie ein guter Lehrer, mehr wusste als seine Schüler, waren ihm selbst die riesigen Dimensionen nicht so bewusst gewesen. Denn erst als der Pflanzungsprozess richtig in Gang gekommen und überschaubar geworden war, fiel auch die Entscheidung, die Aktion genau bis zum Beginn der nächsten documenta, die Beuys dann nicht mehr erlebte, auszudehnen.

Das Problem, das Pflanzprojekt in seiner Monumentalität zu erfassen, hatten auch viele Bürger, bevor noch die ersten Basaltsäulen auf dem Friedrichsplatz lagen und ihrer Meinung das Stadtbild verschandelten. Diejenigen, die die documenta nur als bunten Zirkus begriffen, waren es gewohnt, dass mit jeder Ausstellung Verrücktheiten auf sie zukamen. Und der Frust über das Unverstandene staute sich jeweils solange auf, bis er sich anlässlich eines Streits um eine Arbeit im Außenbereich entladen konnte. 1977 hatten der Bohrturm für den Erdkilometer von Walter de Maria und das Terminal von Richard Serra als Blitzableiter gedient, 1982 war es die Aktion „7000 Eichen“ und insbesondere der Berg der Basaltsäulen auf dem Friedrichsplatz.

Während wir, die Schüler, lernten, dass jede Baumart ihren Standort braucht, dass es im Frühjahr und Herbst nur begrenzte Pflanzzeiten gibt und dass es schon einer unternehmerischen Organisation bedarf, um die für das Projekt notwendigen 3,5 Millionen Mark zusammen zu bekommen, mussten wir gleichzeitig etwas anderes lernen – dass der Baum als stolzer Repräsentant der Natur und als lebensspendendes Element die gleichen Aggressionen hervorrufen kann wie eine rostende Stahlplatte von Serra. Nicht eigentlich die Stadtverwaltung machte Schwierigkeiten. In vielen Fällen waren es die Anlieger, die die Bäume eher als Ärgernis verstanden.

Nun mochte man noch nachvollziehen, dass sich Anwohner wehrten, als auf dem Innenhof ihres Häuserblocks Parkplätze zugunsten von Bäumen verschwinden sollten. Trotzdem war nicht zu verstehen, dass es um solche Fragen zum fundamentalen Streit kam, obwohl doch alle daran hätten interessiert sein müssen, in ein Stadtviertel, in dem sich das Grün auf ein paar Grasnarben beschränkte, endlich auch einmal richtige Bäume zu holen.

Verglichen mit allen anderen öffentlich umstrittenen documenta-Aktionen war „7000 Eichen“ das friedlichste und zugleich das am stärksten auf die Stadt und ihr Wohl bezogene Werk. Aber selbst diese Eigenschaften konnten nicht eiferndes Protestgeschrei verhindern.

Beim Blättern in dem 1987 erschienenen Band „7000 Eichen – Joseph Beuys“ (Verlag der Buchhandlung Walther König) stieß ich auf einen Zeitungsartikel mit der Überschrift „CDU-Kritik: Beuys-Bäume das Werk von Barbaren“. Fast unwillkürlich dachte ich dabei an den Fall von 1986, als Unbekannte systematisch eine Reihe von Beuys-Bäumen umgeknickt (enthauptet) hatten. Aber ich befand mich auf einer falschen Fährte. Vielmehr bezog sich das Wort von den „künstlerischen Barbaren“ auf das Pflanzteam, das entgegen der Meinung des Ortsbeirates eine Reihe von Bäumen an der Konrad-Adenauer-Straße parallel zu der vorhandenen Wald- und Grün-Zone gesetzt hatte. Das Team verteidigte sein Konzept mit dem Hinweis darauf, dass an allen Aus- und Einfallstraßen Kassels Beuys-Bäume gepflanzt werden sollten. In der Tat ist es immer wieder schön zu sehen, wie man als Autofahrer von ganzen oder nur angedeuteten Beuys-Alleen beim Erreichen der Stadt begrüßt wird.

Natürlich bleibt es jedem überlassen, die Baumpflanzung am Waldrand für unnötig oder für eine Verschwendung zu halten. Wenn aber in diesem Zusammenhang vom „Werk von Barbaren“ die Rede ist, dann bleiben einem die Worte weg. Lebenszeichen als das Werk von Barbaren? Es spricht viel dafür, dass sich der darin offenbarende Hass auf ganz andere Dinge bezieht. Doch leider war diese Äußerung war kein Einzelfall. Vor allem in der Anfangsphase wurden vielerorts die Pflanzaktionen mit Argwohn registriert.

Der Hauptwiderstand richtete sich zuerst gegen den Basaltberg, den Beuys keilförmig auf dem Friedrichsplatz, direkt vor dem Fridericianum, aufschichten ließ. Die Keilspitze wies auf den ersten Baum, den Beuys zu seiner Aktion gepflanzt hatte. Selbst die Tatsache, dass das allmähliche Verschwinden der Basaltsäulen wie eine rieselnde Sanduhr den Fortgang der Pflanzaktion bezeugte, wollten die Kritiker nicht zu Kenntnis nehmen. Und als später ein Autofahrer auf der Ludwig-Mond-Straße tödlich verunglückte, war nicht der schuld, der von der Fahrbahn abgekommen und auf den Mittelstreifen gerast war, sondern waren es angeblich der Stein und der Baum, die ihn getötet hatten. Über Nacht waren die Basaltsäulen mit schwarzen Kreuzen versehen worden. Eine Kampagne schien zu beginnen, in der die Bäume mit den Basaltsäulen, die für das Leben stehen, in Todeszeichen umgemünzt werden sollten. Doch dazu kam es dann doch nicht.

Eine zentrale Ursache für den Konflikt lag in der Einfachheit des Denkens von Joseph Beuys. Die Menschen, die es nicht gelernt hatten, mit der zeitgenössischen Kunst umzugehen, erwarteten Höheres von der Kunst, vor allem handwerkliche Perfektion. Nun kam aber einer, der das machte, was jeder Gartenbesitzer macht, Bäume pflanzen, und dies für Kunst ausgab. Wie war das zu erklären?

Joseph Beuys hat sich immer wieder bemüht, das, was er tat, zu erklären. Er war wirklich der geduldige Lehrer, der Verständnis wecken wollte. Die Eiche, so hatte er immer wieder gesagt, habe er als Leitmotiv und Symbol für sein Werk ausgesucht, weil sie ein mythischer Baum sei und weil sie mit ihrem langsamen Wachstum und ihrer Fähigkeit, mehrere hundert Jahr alt zu werden, ein besonders herausragendes Beispiel der sich selbst erneuernden Natur sei. Das heißt: Die „7000 Eichen“ waren für Beuys ein Versprechen, etwas zu beginnen, was die Jahrhunderte verbinden könnte. Das vulkanische Gestein der Basaltsäulen passte für Beuys zu diesem organischen Charakter des Ganzen.

Mit der Aktion hatte Beuys genau das vollzogen, was ihn seit Jahren beschäftigte: Nämlich die Kräfte der Kunst dafür einzusetzen, um in der Stadt und Gesellschaft dauerhaft etwas zu verändern. Er wollte die Überwindung der Kunst, um in das Leben einzugreifen, um die Kunst zu einer Kraft des Lebens zu machen. Das ist ihm gelungen. Manche Straßenzüge kann man sich ohne die Baumreihen nicht mehr vorstellen; und wenn man die Bodelschwingstraße oder die Ochsenallee nimmt, dann hat man Skulpturenalleen vor sich.

Joseph Beuys hatte es verstanden, die Kunst für die Natur zu aktivieren, um mit Hilfe der Natur ein neues Denken über die Kunst in Gang zu setzen. Er knüpfte dabei an eine uralte Tradition an. Denn die großen Gartenanlagen sind Produkte dieser Verschmelzung von Kunst und Natur. Beuys machte im Grunde nichts anderes. Der Unterschied bestand nur darin, dass er die Idee des geschlossenen Parks (der möglicherweise im Kontrast zu baumlosen Straßen steht) überwand und den Stadtraum insgesamt durchgrünen und verwalden wollte. Wenn man so will, dann ist das Projekt „7000 Eichen“ ein Gegenstück zum Bergpark Wilhelmshöhe und zur Karlsaue. Die Bürger müssen nicht in den Park gehen, die Bäume des Parks kommen zu ihnen.

Die Skepsis und der Widerstand hielten sich trotz allem in Grenzen. Es fanden sich in der Stadt auch immer wieder Kreise, die die Pflanzaktion stützten, die Baumpatenschaften übernahmen oder das Unternehmen ideell förderten. Aber die Basis war nicht breit genug, um den Hauptteil der Geldspenden aus der eigenen Stadt zu gewinnen, obwohl ja alle Einwohner davon profitierten. Je mehr Zeit vergeht, desto sichtbarer wird das.

Das Geniale an dem Projekt „7000 Eichen“ ist, dass Beuys uns allen vorführte, wie man die Dinge zusammen bringen muss – die Ideen der Kunst und das Bild de Stadt, die Kenntnisse der Natur und das Bewusstsein der Form, die Auseinandersetzung mit den bürokratischen Strukturen und die Gewinnung finanzieller Ressourcen. Die Verschmelzung der Zarenkronen-Kopie zu einem neuen Friedenssymbol (Hase und Sonne) im Sommer 1982, war nicht nur ein spektakulärer, medienwirksamer Akt, den Beuys auf einem Podest über dem Steinkeil vollzog, sie war auch der Beginn einer ungewöhnlichen Finanzierungskampagne. Der spätere Verkauf des goldenen Hasen sorgte – jenseits der ersten Baumpatenschaften – für den ersten namhaften Grundstock. Auch die zweite große Rate beschaffte Beuys selbst, indem er in Japan Fernsehwerbung machte.

Die dritte herausragende Aktion organisierte sein Freund Heiner Bastian. Er gewann internationale Künstler dafür, je ein Werk zu stiften. Der Verkaufserlös sollte helfen, die Schlussphase von „7000 Eichen“ zu finanzieren. Als die Ausstellung „7000 Eichen“ mit diesen Werken der Künstler-Freunde im Herbst 1985 nach Kassel kam und Beuys zur Eröffnung sprach, erlebten ihn viele der Anwesenden zum letzten Mal. Deshalb prägte sich diese Ausstellung in der Orangerie besonders tief ein.

Ebenso wichtig an dem Ereignis aber war, dass es die Dimensionen von „7000 Eichen“ in ihrer Komplexität überwältigend bewusst machte: Künstler der Welt hatten Bilder und Objekte dafür gegeben, dass in Kassel Bäume gepflanzt werden konnten. War das nicht ein unglaublicher Vorgang?

Obwohl damals die Vorstellung von einer Globalisierung noch nicht entwickelt war, wurde diese Ausstellung zu einer Wegmarke einer weltweiten Vernetzung. Beuys hatte endgültig den schützenden Raum des Museums verlassen, um mit seiner Kunst in die Gesellschaft, in diesem Fall in die Stadt, hineinzuwirken. Und indem er sich davon abwandte, eine Skulptur mit einem Anspruch auf ewige Unveränderlichkeit zu gestalten, brachte er ein Werk hervor, das sich allen bisherigen Maßstäben entzog und dessen Entfaltung auf Generationen und Jahrhunderte angelegt war. Mit den Mitteln der Kunst hatte Beuys das Territorium der Kunst verlassen, um etwas Weitreichenderes in Gang zu setzen. Die Unterstützungsaktion von Heiner Bastian verhalf aber nicht nur zur Vollendung, sondern führte mit der Stiftung der Kunstwerke und der Form der Ausstellung zur Kunst und ins Museum zurück. Ein großartigerer Zirkelschluss hätte am Ende nicht stehen können.

Mag sein, dass viele der früheren Skeptiker auch heute noch nicht in den Beuys-Bäumen die Teile eines Kunstprojektes sehen. Doch das Wachstum der Bäume und die Veränderungen der Stadt haben das Denken und Fühlen verändert. Wohl ist es immer noch schwer, Pflanz- und Pflegepaten für die Bäume zu finden. Allerdings ist die lange Zeit der Konflikte überstanden. Vor allem ist dank des guten Zusammenwirkens von Gartenamt, Beirat und Stiftung es möglich geworden, sachlich und zukunftsorientiert über Baumstandorte zu reden, die nicht zu halten sind, weil sich alle einig sind in dem Gedanken, dass die Gesamtgestalt das Entscheidende ist. So ist heute klar, dass dort, wo ein Baum weichen muss, sofort nach einer Ersatzpflanzstelle gesucht werden muss. Die „7000 Eichen“ haben in der Stadt Wurzeln geschlagen – nicht nur auf den Plätzen und in den Straßen, sondern auch in den Köpfen.

Geschrieben für den Kalender „7000 Eichen“ (2004)

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