Ich liebe offene Strukturen

Ein Gespräch von Dirk Schwarze mit dem neuen Leiter der Kunsthalle Fridericianum in Kassel – veröffentlicht im „Kunstforum international“ – Band 190 (März 2008)

Herr Wolfs, wie sind Sie zur Kunst gekommen?
Wolfs: Ich habe erst fünf Jahre lang niederländische Literatur studiert. Doch dann hat es mich immer stärker in Richtung Kunst gezogen. Ich empfand damals Literaturgeschichte als zu buchhalterisch. Es war wie ein Verwalten von Literatur – mit Strukturanalysen, aber nicht so viel, dass man sich wirklich mit dem Werk inhaltlich auseinandersetzen konnte. Daher hat mich die Beschäftigung mit Kunst gereizt, weil die Kunstwissenschaft viel freier war. Sie erschien mir fast ‚naiver’ und in gewisser Weise abenteuerlich, weil man sich freier mit den Inhalten beschäftigte. Das hat sich vielleicht in der Zwischenzeit geändert, aber damals war das so.

Geschah das plötzlich?
Wolfs: Ich war schon immer an Kunst interessiert. Der Knackpunkt war für mich eine Begegnung mit einer Arbeit von Bruce Nauman in einer großen Skulpturen-Ausstellung. Da habe ich gedacht: Ich möchte zu dem Rätsel, das da drin steckt, mehr wissen. Diese Rätselhaftigkeit finde ich eine der wichtigsten Eigenschaften der bildenden Kunst und viel prägnanter als in der Literatur. In der Literatur benutzen wir die Sprache, die alle gebrauchen, es sind Worte, die jeder benutzt. Aber in der Kunst sind wir ein Stück weg vom Wort.

Was war das für eine Arbeit von Bruce Nauman?
Wolfs: Das war ein Kreis aus Cortenstahl in einer Ausstellung in Middelheim. Die Arbeit hat mich irgendwie berührt, ohne dass ich erklären konnte, warum. Das ist so etwas Unverständliches und Direktes gewesen, dass ich gedacht habe, damit muss ich mich stärker auseinandersetzen. Also habe ich angefangen, über Nauman zu lesen und zu schreiben.

Hatten Sie da das Ziel, Kritiker zu werden?
Wolfs: Anfangs schon. Als Jugendlicher wollte ich Journalist werden. Dann wollte ich auch ernsthaft Kritiker werden, doch schon bald fing ich an, auch Ausstellungen zu organisieren. Dabei habe ich entdeckt, und ich glaube, das ist immer noch stark entwickelt, dass ich über eine relativ intuitive Art verfüge, Kunstwerke zusammen zu bringen und zueinander in Beziehung zu setzen. Als Kritiker konnte ich mir aussuchen, worüber ich schreiben wollte, vorausgesetzt, ich hatte das Medium, das den Text publizierte. Als Kurator hingegen bin ich an mehr Rahmenbedingungen gebunden. Da gibt es räumliche Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, aber auch Planungsvorgaben. Das kreative Moment ist das Moment der Auswahl der Künstler bzw. des Themas, dieses Moment ist zugleich das kritische Moment.

Nun hat es im Zusammenhang mit der documenta 12 von Teilen der Kritik den an Ruth Noack und Roger Buergel gerichteten Vorwurf gegeben, sie hätten sich selbst zu Oberkünstlern aufgeschwungen. Gilt der Vorwurf generell für die Arbeit der Kuratoren?
Wolfs: Generell gilt der Vorwurf nicht. Aber es gibt seit längerem Kuratoren, die sich ab und zu wie Oberkünstler verhalten. Starkuratorentum hat sich seit einiger Zeit eingebürgert – ich denke schon seit zehn oder 20 Jahren. Ich sehe den Kurator als jemanden, der wählt, der ermöglicht und der Rahmenbedingungen schafft – der quasi als Komplize der Künstler auftritt und der versucht, das Unmögliche zu realisieren. Ich sehe ihn nicht als jemanden, der über den Dingen steht und sein eigenes Kunstwerk realisiert. Die Ausstellung ist für mich kein kuratorisches Kunstwerk. Eine Ausstellung ist ein Zusammenbringen von Kunstwerken bis zu einem sinnvollen Ganzen, das auch eine gewisse Rhetorik und Grammatik hat, die man als Besucher relativ intuitiv verstehen muss.

Das Kunstforum hatte seine Ausgabe zur documenta IX unter den Titel „Die documenta als Kunstwerk“ gestellt. Würden Sie das als angemessen oder als daneben gegriffen beurteilen?
Wolfs: Eine Ausstellung ist höchst selten ein Kunstwerk. Von daher finde ich den damaligen Titel übertrieben. Aber die Richtung ist schon klar: Eine Ausstellung als Kunstwerk zu konzipieren, ist eine interessante Tendenz, die schon seit Harald Szeemann zu beobachten ist.

Auf den wäre ich auch gekommen…
Wolfs: Szeemann ist der erste Künstler-Kurator…

… zumal er mit seiner Ausstellung zum Gesamtkunstwerk auf Tendenzen hingewiesen hat, die er selbst in seiner Ausstellungsarbeit verfolgt hat.
Wolfs: Nur, seine Ausstellung hieß „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Es ging eben um eine Ambition, nicht aber um das vollendete Gesamtkunstkunstwerk. Er hat nie seine Ausstellung als Gesamtkunstwerk präsentiert, aber immer den Versuch thematisiert. Seiner letzten Biennale in Venedig hat er einen schönen Titel mitgegeben: „Plateau der Menschheit“. Das war ein großartiger Titel, der anknüpfte an die große Geschichte. Aber der Titel war nur als Vorschlag gedacht, Szeemann hat nie eine Wahrheit formulieren wollen. Und das ist vergleichbar mit einem Kunstwerk. Kunstwerke sind auch oft Vorschläge. Sie sind wahrheitssuchend, aber nicht wahrheitsbestimmend, sinnsuchend und im allerbesten Fall auch sinnstiftend.

Was war Ihre erste eigene Ausstellung?
Wolfs: Ich habe in den 80er-Jahren als Student eine Ausstellung in Amsterdam gemacht, und die hieß ‚Terzij de Horde’ (weg mit der Hürde). Der Titel war ein Zitat von einem niederländischen Dichter aus den 20er-Jahren – Hendrik Marsman. In dieser Ausstellung versuchten acht Künstler, aus den klassischen Medien auszubrechen.

War das der Auslöser für Sie, auf diesem Weg weiterzugehen. Denn Sie haben ja erst noch als Kritiker gearbeitet.
Wolfs: Wir haben damals die Ausstellung als Redakteure einer Zeitschrift gemacht. Wir wollten unsere Ideen einmal nicht zu Papier bringen, sondern sie in der Wirklichkeit umsetzen. Da hat es mich schon gepackt, muss ich sagen. Es war auch eine gute Möglichkeit, um eine sehr direkte Nähe zu Künstlern herzustellen. Dabei entstand auch der Gedanke, Kurator zu werden.

Bevor Sie für Migros das Museum aufgebaut haben, haben Sie schon für das Unternehmen gearbeitet. Was haben Sie da gemacht?
Wolfs: Ich bin 1991 nach Zürich und Schaffhausen gegangen. Dort habe ich mit Migros-Geldern Ausstellungen in den Hallen für neue Kunst in Schaffhausen mitkuratiert, ich habe mit Migros-Finanzen Projekte realisiert, mich in die Migros-Sammlung eingearbeitet und dann auch angefangen, die Sammlung weiterzuführen. Um 1993/94 entstand dann die Frage, ob man nicht mit der Sammlung an die Öffentlichkeit gehen könne. Daraufhin habe ich das Migros-Museum konzipiert. Die Projektierungs- und Realisierungsphase hat zwei Jahre gedauert – bis 1996.

War die Sammlung schon sehr groß, als Sie eingestiegen sind?
Wolfs: Es war eine Sammlung internationaler Kunst der 70er- und 80er-Jahre. Es waren sehr wichtige Arbeiten dabei, aber von den meisten Künstlern nur ein oder zwei Werke. Nauman war vertreten, auch LeWitt, Mangold, Judd, Merz, Kounellis und solche Ikonen. Aus den 80er-Jahren waren zwei Kippenberger-Bilder vorhanden, und es waren natürlich auch Baselitz, Penck und Richter dabei. Es war eine interessante Sammlung, aber keine sehr große. Ich habe sie dann mit Blick auf die 90er-Jahre updaten können und viel aktuelle Kunst angekauft. Das heißt nicht, dass wir sehr große Mittel zur Verfügung hatten, aber in den 90er-Jahren konnte man günstig Kunst kaufen. Ich habe angefangen, relativ früh, also wenn die Preise noch nicht so hoch sind, anzukaufen.

Sie haben angekauft, aber auch Ausstellungen gemacht.
Wolfs: Wir haben meist einen Teil unserer Sammlung gezeigt, aber wir haben auch wie eine Kunsthalle funktioniert. Das Migros-Museum war beides – Kunsthalle und Museum, weil die Sammlung sich unmittelbar aus den Ausstellungen entwickelte. Meine Idee war: Jetzt arbeiten wir zehn Jahren am Ausbau der Sammlung, um dann ein richtiges Museum zu haben.

An welche Ausstellung denken Sie am liebsten zurück?
Wolfs: Es sind zwei, drei, vier Ausstellungen, die mir ganz wichtig sind. Eine ist die von Rirkrit Tiravanija gewesen. Er hatte sich mit Migros auseinandergesetzt und in das Museum einen großen funktionstüchtigen Supermarkt gesetzt, in dem es einige weitere aktive Kunstinstallationen gab. Das war eine Ausstellung, die das Verhältnis von Firma und Museum sehr klar gemacht hat. Eine wichtige Ausstellung war auch die von Maurizio Cattelan. Er hat alle nichttragenden Backsteinwände herausgenommen und damit für die Zukunft eine neue Raumordnung geschaffen. Ganz am Ende des Raums war eine Figur platziert: Cattelans Abbild in einem Beuyschen Filzkostüm: „La Rivoluzione siamo Noi“, so der Titel.

Warum sind Sie da weggegangen?
Wolfs: Ich hatte das sechs Jahre lang gemacht. Ich war mittlerweile zehn Jahre bei der Migros. Also musste ich mal wieder etwas anderes machen. Zudem fand ich damals, dass Galerien und Institutionen in Zürich zu nah beieinander waren. Die Kunst wurde in der Stadt zu stark kapitalisiert. Folglich wollte ich in eine Stadt, in der die Kunst nicht so etabliert war und in der der kommerzielle Druck nicht so groß war, und wo noch alte demokratische und sozialistische Prinzipien herrschen. Das war Rotterdam. Und ich wollte einmal sehen, wie man mit zeitgenössischer Kunst in einem enzyklopädischen Museum umgehen kann. Meine Frage war: Kann man da mehr Öffentlichkeit erreichen?

Rotterdam gilt ja als ein schwieriger Standort für zeitgenössische Kunst.
Wolfs: Es ist nicht ganz einfach dort. Als ich Ende 2001 nach Rotterdam kam, hat sich die Stadt total verändert. Rotterdam galt immer als sehr linke Stadt, als eine Arbeiterstadt, als eine Stadt der Sozialdemokratie. Aber wenige Monate später war alles anders. Der Rechtspopulismus hatte sie in den Griff genommen. Der Chef der Rechtspopulisten, Pim Fortuyn, wurde erschossen, kurz bevor er die Wahl gewonnen hätte. Nichts stimmte mehr. Trotzdem: Ich mag die Stadt sehr, es ist eine interessante Stadt, eine Stadt, die sehr zerstört ist und an der immer noch gebaut wird, eine Stadt, die ständig im Wandel ist.

Was haben Sie dort gemacht?
Wolfs: Ich war im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam verantwortlich für alle Ausstellungen – von den alten Meistern bis zur Gegenwart. Ich selber habe immer wieder Ausstellungen im zeitgenössischen Bereich kuratiert, aber ich habe auch viel für das Management der anderen Ausstellungen gemacht. Die Arbeit in einem enzyklopädischen Museum finde ich interessant. Trotzdem ist es notwendig, die aktuelle Kunst auch in separaten Institutionen und Räumen zu zeigen. Zeitgenössische Kunst und ältere Kunst sind zwei verschiedene Paar Schuhe; sie haben unterschiedliche Zielgruppen mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen, anderen Finanzierungsstrukturen und Arbeitsvorgängen. Sie befruchten sich auch weniger, als ich zuvor gedacht habe. Wenn man im großen Museum arbeitet, ist der politische und ökonomische Druck der Zuschauerzahlen sehr groß. Ich finde das auch richtig. Nur: Man kann die Ausstellungen zeitgenössischer Kunst nicht unter denselben Voraussetzungen organisieren wie etwa die klassische Moderne. Daraus ergibt sich eine ganz andere Arbeitsweise. Eine Kunsthalle oder ein Museum für Gegenwartskunst kann man mit ein paar Leuten machen, ein Museum für die gesamte Kunst nicht.

In Kassel kommen Sie in eine Kunsthalle ohne eine eigene Sammlung. Das ist ja für Sie eine völlig neue Situation.
Wolfs: Ja, das ist richtig. Die Kunsthalle Fridericianum hat keine eigene Sammlung. Aber es gibt Sammlungsbestände in Kassel. Mich würde es schon reizen, ab und zu mit einer Sammlung zu arbeiten. Es kann auch eine andere Sammlung sein, die mal in Kassel zu Gast ist. Ich habe gern den Wechsel und die Dynamik. Auch im Migros-Museum haben wir einen dynamischen Umgang mit der Sammlung gepflegt. Doch bei mir stehen immer die Ausstellungen im Vordergrund. Bei Boijmans bin ich eben auch Ausstellungsleiter gewesen, nicht Sammlungsleiter. Ich liebe die Tabula rasa – die Möglichkeit, jedes Mal wieder ganz neu anzufangen.

Wann waren Sie zum ersten Mal in Kassel?
Wolfs: 1987 – zur zweiten documenta von Manfred Schneckenburger. Die vorherige von Rudi Fuchs habe ich leider verpasst.

Haben Sie bestimmte Vorstellungen von der inneren Gestalt des Fridericianums. Es sind ja anlässlich der jüngsten documenta alle Zwischeneinbauten entfernt worden, so dass eine klare, großzügige Struktur entstanden ist. Ist das für Sie eine gute Basis?
Wolfs: Ich arbeite am liebsten mit großen Räumen, offenen Strukturen und möglichst wenigen Einbauten. Die Einbauten sind die Werke selbst. Die Werke funktionieren in Bezug aufeinander und sie schirmen sich auch voneinander ab. Räumliche Werke schaffen ihre eigenen Barrieren und ihre eigenen Verbindungen. Deshalb liebe ich große offene Räume. Die Liste meiner Ausstellungen enthält vorwiegend Ausstellungen, die räumlich-installativ sind, also sehr offensiv den Raum nutzen.

Wo knüpfen Sie bei Ihrer Planung für Kassel an – bei Ihrer eigenen Ausstellungsbiografie oder bei dem, was in Kassel vorgegeben ist – mit dem Gebäude, seiner Geschichte und seinen Ausstellungen?
Wolfs: Es wird eine Mischung sein. Beispielsweise denke ich an Ausstellungen, die Brücken zwischen verschiedenen Epochen der Gegenwartskunst schlagen. Ich denke auch an Ausstellungen, die die Rolle und die Haltung des Künstlers klar thematisieren. Dabei werde ich auch Künstler vorstellen, mit denen ich schon zusammengearbeitet habe. Im Vordergrund steht immer eine gewisse Menschlichkeit, ein Plädoyer für Humanität.

Womit werden Sie starten?
Wolfs: Eröffnen werde ich am 4. September 2008 mit einer Gesamtinstallation von Christoph Büchel. Seine Arbeit wird das Fridericianum neu definieren. Mit Büchel habe ich noch nicht gearbeitet, aber ich verfolge seine Entwicklung seit vielen Jahren.

Worin besteht für Sie der besondere Reiz der Arbeit in Kassel?
Wolfs: Mich reizt an der Kunsthalle Fridericianum, zwischen zwei documenta-Ausstellungen zu arbeiten und trotzdem unabhängig von der documenta zu sein. In diesem Bruch liegt die Herausforderung. Mich reizt die Ambition, Kassel vermehrt als permanentes Kompetenzzentrum für Gegenwartskunst zu positionieren. Mich reizen zudem das Haus und seine Architektur. Mich reizt das Paradox, neue Kunst im ältesten öffentlichen Museumsbau des europäischen Festlandes zu zeigen. Mich reizt das Spannungsfeld.

Sie sprachen vorhin davon, dass Sie gelegentlich gern mit Sammlungen arbeiten. Denken Sie da auch an Bestände der Neuen Galerie, die wegen Umbaus rund zwei Jahre geschlossen ist?
Wolfs: Ja, es könnte möglich sein, mit Teilen der Sammlung aus der Neuen Galerie zu arbeiten.

Wie viele Ausstellungen pro Jahr planen Sie, und steht jedes Projekt für sich oder wird es inhaltliche Klammern geben?
Wolfs: Es wird jährlich 4 Ausstellungstermine geben. Dabei werden aber manchmal mehrere Ausstellungen gleichzeitig eröffnet. Ich rechne mit ca. acht Ausstellungen jährlich und vier Eröffnungen. Inhaltliche Klammer ist immer das von mir erwähnte Plädoyer für Menschlichkeit. Und wenn z.B. zwei oder drei Einzelausstellungen gleichzeitig eröffnen, werden die sicher auch inhaltlich miteinander zu tun haben. Auch das Haus mit seinem gegliederten Architektur hält zusammen und besteht aus drei voneinander getrennten Flügeln.

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