Grafik von Wols
Kostbarkeiten sind in Kassels Neuer Galerie zu besichtigen, winzige Blätter, Miniaturen; die meisten bewegen sich in einem Format von zehn mal sieben Zentimetern. Sie wirken nicht nur von der Größe her unscheinbar. Wenn man aber näher herangetreten ist und sich auf sie eingelassen hat, ist man überrascht, ja, überwältigt von der Kraft und Dynamik, die sie ausstrahlen.
Gezeigt wird nahezu das gesamte druckgrafische Werk des deutsch-französischen Künstlers Alfred Wolfgang Schulze, der unter dem Namen Wols zu einem der Väter jener expressiven abstrakten Kunst wurde, die als „Informel“ die 50er-Jahre beherrschte. Wols, 1913 in Berlin geboren und 1932 nach Paris übergesiedelt, wurde nur 38 Jahre alt. Sein malerisches und grafisches Werk entstand in dem kurzen Zeitraum von zehn Jahren. Trotzdem gewann es einen ungeheuren Einfluß auf die Kunstentwicklung.
Wols gehörte zu den vielseitig begabten, sensiblen und doch rastlosen Künstlern. Sein musikalisches Talent war so groß, daß er als 18jähriger Konzertmeister hätte werden können, seinen ersten großen Erfolg aber hatte er in Paris als künstlerischer Fotograf. Doch erst in seinem letzten Lebensdrittel fand er zu der Kunst, die seinen Ruhm begründet – zur Zeichnung und Malerei.
Eine kluge Ankaufspolitik in den 60er und 70er Jahren verhalf den Staatlichen Kunstsammlungen Kassel dazu, daß sie die Ausstellung jetzt weitgehend aus eigenen Beständen bestreiten können. Die Übersicht und der dazu herausgegebene sorgfältige Katalog rechtfertigen den Appell, die wenigen gebliebenen Lücken auszufüllen.
Die Interpreten von Wols‘ Arbeiten sind häufig uneins, ob sie die Bilder eher dem Bereich des Gegenständlichen und Surrealen oder mehr dem Abstrakten zuordnen können. Die Kaltnadel-Blätter bewegen sich genau im Grenzbereich mit einer leichten Neigung ins Surreale, ins Erzählerische. Das mag auch damit zu erklären sein, daß etliche dieser Drucke als Illustrationen für Bücher geschaffen wurden.
Sehr oft hat sich Wols in diesen Drucken mit der Stadt auseinandergesetzt und auf ihre Strukturen, ihre Topographie konzentriert. In dem Blatt „Die Stadt – quer“ gelang es ihm, aus kleinsten Linien und Kastenformen das spielerische Bild einer Stadt zu entwerfen, die mit einem Gewirr von Bauten in der Landschaft ausufert und sich zur Mitte kraftvoll verdichtet. Aus dem zarten Liniengeäst, unter dem eine weitere Schicht nur angedeuteter Formen liegt, wächst das kräftige und dunkle Diagramm des Zentrums heraus. Ein winziges und dabei monumentales Bild, das der erzählerischen Haltung verpflichtet bleibt.
Daneben sieht man Arbeiten, die ganz aus der Kraft der spontanen, sich kreuzenden und verdichtenden Linien formuliert sind. In. Blättern wie „Große Tache“ (Großer Fleck) entwickelt der in die Platte eingeritzte Strich eine solche Eigendynamik, daß ein dichtes Netz schnell und unbewußt gesetzter Linien entsteht. An die Stelle der poetischen Erzählung ist die
chaotische Niederschrift getreten.
Eine schöne Ergänzung der Kaltnadel-Arbeiten bilden sechs Aquarelle. Die drei Blätter von 1939 stellen Wols als surrealistischen Künstler vor, wobei vor allem die „Komposition mit Krokodil“ einen heiteren Zug ins Spiel bringt. Zwei
vom Sprengel-Museum in Hannover ausgeliehene Aquarelle, die um 1950/51 entstanden sind, belegen den gewaltigen, Weg, den Wols in der Zwischenzeit gegangen ist. Selbst die gemalten Partien sind in den Sog der Linien-Dynamik geraten.
HNA 23. 11. 1985