Die Aneignung des Raumes

Eine Ausstellung von Franz Erhard Walther, die vor 30 Jahren in Fulda als ein Skandal empfunden wurde, ist rekonstruiert worden und wird im Museum Fridericianum in Kassel gezeigt.

Die Galerie „Junge Kunst“ in Fulda wagte sich Anfang der 60er Jahre durchaus auf das Feld der umstrittenen Kunst. Als die Galerie aber 1964 innerhalb einer Gruppenausstellung auch die „Sieben Werkgesänge“ von Franz Erdhard Walther zeigte, war für viele der Toleranzspielraum erschöpft. Das war für sie nicht mehr Kunst; ein heftiger Streit entbrannte. Walther, aus Fulda stammend und einer der geistigen Väter der Galerie, war damals 24 Jahre alt und stand kurz vor dem Abschluß seines Kunststudiums in Düsseldorf.

Das, was die Empörung hervorrief, war die Tatsache, daß Walther Werke im herkömmlichen Verständnis verweigert hatte: Mit einer zehn Meter langen Schnur hatte er ein Rechteck im Raum eingegrenzt; er hatte luftgefüllte Kissen verschiedener Größe und unterschiedlichsten Materials auf den Boden und einen alten Stuhl gelegt sowie an der Wand befestigt bzw. in größerer Zahl untereinander aufgereiht. An einer anderen Wand war eine große runde Scheibe mit vier
Bändern befestigt, andere Objekte ruhten auf dem Boden. Und schließlich sorgten Sprachbilder Walthers für Aufregung, darunter eine 255 Zentimeter lange Textfahne mit 227 Begriffen aus einem Eheberatungsbuch.

Walther kannte Fulda und hatte seine Arbeiten bewußt für diese Stadt gemacht. Die Textfahne mußte in jener Zeit, in der offen über Aufklärung nicht gesprochen wurde, provozieren. Aber ansonsten hatte der Künstler alles andere als provokation im Sinn. Seine „Werkgesänge“ für Fulda waren, so läßt sich heute sagen, die tastende Annäherung an sein späteres künstlerisches Werk, in dem die Trennung zwischen Bild, Relief, Skulptur und Aktionsmaterial aufgehoben werden sollte. Franz Erhard Walther hat immer raum- und körperbezogene Wand-Boden-Objekte geschaffen, die durch ihre intensiven Farben nie den Bezug zur Malerei verloren.

Es wäre anmaßend, wollte man sich über das damalige Fuldaer Unverständnis erheben. Walther stand, so läßt sich rückschauend sagen, in der vordersten Linie der Avantgarde, völliges Neuland erkundend. Er erarbeitete sich damals das Alphabet seiner Kunst-Sprache und versuchte, sich mit ungewohnten Mitteln den Raum anzueignen – beispielsweise mit seinen Kissen der Farbe Volumen zu geben oder mit seinen Wandobjekten in den Raum hineinzuWirken.
Nachdem die rekonstruierte Ausstellung zum versöhnlichen Schluß im Frühjahr in Fulda zu sehen war, wird sie nun im Museum Fridericianum in strenger Annäherung an das Ursprungskonzept gezeigt. Für den ausstellungsgewohnten Besucher ein höchst ästhetisches Erlebnis – mit plastischen Farbformen und aktionsbezogenen Objekt.en. Faszinierend aber ist, ~e sich in dieser Ausstellung der Kern von Walthers langjährigem Werk, das auch wiederholt in der documenta zu erleben war, offenbart.

HNA, 21. 6. 1994

Schreibe einen Kommentar