Künstler auf Leben und Tod

Das Ritual liegt fest und vollzieht sich Jahr für Jahr mit immer gleicher Ernsthaftigkeit: In einer Sondersitzung des Rates in der Goslarer Kaiserpfalz, in der sich das Bürgertum der Harzstadt und die aus den Zentren angereisten Kunstkenner und -freunde zusammenfinden, wird ein richtungweisender Künstler der Gegenwart mit dem Goslarer Kaiserring geehrt. An diesem Wochenende erhielt Günther Uecker als achter diesen ideellen Kunstpreis: nach Joseph Beuys der zweite aus der Düsseldorfer Kunstszene.

Wie sehr die Goslarer Ehrung mittlerweile ausstrahlt, ist daran abzulesen, daß Prof. Dieter Honisch (Nationalgalerie Berlin) die Kaiserring-Verleihung zur Präsentation seiner großen Uecker-Monographie nutzte. Außerdem hatte aus dem gleichen Anlaß die Düsseldorfer Kunsthalle eine Ausstellung mit den bibliophilen Werken Ueckers eingerichtet.

Neben einer Festrede auf den Preisträger (Prof. Karl Ruhrberg, Museum Ludwig in Köln), neben musikalischer Umrahmung und der Eintragung ins Goldene Buch gehört auch zum Ritual, daß der ausgewählte Künstler zuvor mit einer Schulklasse diskutiert und im Mönchehaus-Museum eine Ausstellung einrichtet. Diese Ausstellung hat Uecker so intensiv vorbereitet wie kaum ein anderer seiner Vorgänger.

Das Ergbnis ist eine repräsentative Werkschau, in der sich nachvollziehen läßt, wie sich Ende der 50er-Jahre aus dem Maler der Objektemacher entwickelte, der als Nagel-Künstler Ruhm erlangte. Der in die Leinwand, ins Holz, ins Buch oder in Stühle geschlagene Nagel ist für Uecker, wie Ruhrberg formulierte, zum Fetisch geworden. Doch der Nagel ist mehr als ein strapaziertes Markenzeichen; er ist ein
Sprach- und Ausdrucksmittel, das formuliert, was mit dem Wort nicht so einfach faßbar ist. Wenn aus einer Tischplatte Nagelspitzen in dichter Reihung herausragen, dann fühlt man sich bedroht und zurückgewiesen, wenn Dutzende von Nägeln Bücher verschließen, dann spürt man die Gewalt, doch wenn auf einer Leinwand oder einem Stuhl die Nägel so angeordnet sind, daß Spiralen entstehen oder sanfte Fließbewegungen, dann sind Härte und Aggressivität des Materials vergessen.

Die Goslarer Ausstellung zeigt auf, wie stark dieses philosophisch begründete Arbeiten ins Inhaltliche zielt. Das gilt nicht nur für Ueckers Werkkomplexe zum Bereich Sprache – Schweigen (Nagelobjekte, Papierritzungen und ein geknotetes Seil, das sich durch das ganze Haus zieht), sondern vor allem für seine eigens für Goslar geschaffene Installation zum Thema Gefährdung und Schutz:
In einem bisher nicht genutzten Nebengebäude des Museums hat Uecker auf zwei Ebenen Räume geschaffen, die unsere Angste vor Krieg und Massenvernichtung spiegeln. Zwischen zwei riesigen Leichentuchern mit schwarzen Körperabdrücken ist eine archaische Kalkmühle aufgerichtet (Kalk für Massengräber). Im Kellergeschoß darunter aggressive Spitzen von eingerammten Holzpflöcken, aber auch Holzstützen zur Sicherung der Wände und Decken.

Ruhrberg hatte nicht umsonst Uecket als einen Künstler gewürdigt, dessen Werk sich mit Leben und Tod beschäftigt. Hier ist die Sprache eindringlich und unmißverständlich.

HNA 26. 9. !983

Schreibe einen Kommentar