In seinen 1990 erschienenen Bildband Bilder und Zeichnungen (Basilisken-Presse, Marburg) hatte Gebhard Schwermer einige Reproduktionen von Zeichnungen aufgenommen, die er mit Tusche und Aquarell bearbeitet hatte. Die Blätter öffneten die Zeichnungen zum Malerischen hin und gaben den flüchtigen Stimmungen der Tageszeiten und des Wetters Raum. Während Schwermer sonst in seinen Kompositionen eine Atmosphäre schuf, die außerhalb jeder Zeit zu bestehen schien, präsentierten sich die Tuschebilder als Momentaufnahmen. Doch deutete sich damals nicht an, dass sie für einen bis dahin unbekannten Werkkomplex in Schwermers Schaffen standen. Der Künstler, der in den herben Stadtrandlandschaften des Niederrheins sowie des Bergischen Landes und des Sauerlandes seine Themen gefunden hatte, war Zeichner und Maler. Eine dritte Ebene, so schien es, gab es nicht.
Als Gebhard Schwermer im Frühsommer 2007 mir seinen Plan erläuterte, in einem Buch eine Auswahl seiner Aquarelle vorzustellen, war ich zuerst überrascht: Warum nur Aquarelle und nicht auch Gemälde? Die Frage verriet meine Unkenntnis. Ich hatte nicht gewusst, dass Schwermer innerhalb der letzten 20 Jahre über tausend Aquarelle geschaffen und sich damit eine völlig neue Ausdrucksweise erschlossen hatte. Und ich war doppelt überrascht, als er mir drei Wochen vor seinem Tod, erfüllt von vielerlei Plänen, Einblick in seine Aquarellkunst gewährte. Da waren die ungewohnt hellen, vom südlichen Licht erfüllten Blätter, von denen eine Auswahl in dem anderen Teilband dieser Ausgabe versammelt ist. Aber auch die dunkleren Bilder, die in die nördlicheren Landschaften entführen und die auf den folgenden Seiten zu sehen sind, beeindruckten mich durch eine ungewohnte Lebendigkeit und Dynamik.
Gebhard Schwermer, den ich vor fast vierzig Jahren als Schöpfer von ins Phantastische weisenden Stillleben und magischen Stadtansichten kennen gelernt hatte, war für mich ein Maler, auf dessen Leinwänden schier alles zum Stillleben, wurde. Das Haus, das in der öden Abgeschiedenheit einsam stand, erstarrte ebenso wie der Hinterhof oder die Straßenszene, in die der Maler zwei Figuren gestellt hatte. Schwermer liebte und pflegte diese eingefrorene, von Graun- und Brauntönen beherrschte Tristesse. Nicht in seinem Leben, wohl aber in seiner Malerei hatte er eine Vorliebe fürs Schwermütige, wie er selbst zugab.
Und nun die Aquarelle! Die hier reproduzierten Blätter sind nicht viel heller als die Gemälde, sie zeigen auch grundsätzlich keine anderen Annäherungen an die Motive. Trotzdem sind sie ihrem Charakter nach völlig anders. Sie sind voller Bewegung und Lebenskraft. Aus dem Dunkel leuchtet das Licht, und die Farbpalette ist weit bunter.
Nehmen wir als Beispiel das Blatt Dunkler Himmel (1994): Wir blicken auf eine dörfliche Landschaft. Im Zentrum sehen wir eine Häusergruppe, wahrscheinlich ein Gehöft. Davor liegt dunkles Ackerland. Nur in der rechten Hälfte sind dank einzelner Lichtpunkte Furchen im Boden zu erkennen. Tief über den Häusern hängen die zerklüfteten Wolken. So dunkel, wie der Titel verheißt, sind sie gar nicht. Sie tauchen lediglich das Land ins Dunkel, obwohl am Horizont ein Lichtstreifen zu sehen ist. Die Wolken wirken abenteuerlich. In ihrem dramatischen Gemisch leuchten die unterschiedlichsten Farben Blau in allen Variationen, Grün und Braun, ein paar grünliche Einfärbungen und Rot sowie Rosa.
Wir ahnen, wie rasch die Wolken sich verändern und wie schnell die Lichteffekte wechseln. Der Himmel ist in Aufruhr und übernimmt damit die Bildregie. Er haucht der Landschaft Leben und Seele ein, lässt uns teilhaben an der Stimmung, die diese Wetterlage erzeugt. Die Landschaft wird aus ihrer Starre befreit und tritt zugleich zugunsten des Himmels zurück. In unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem Aquarell sind in dem vorliegenden Band mehrere verwandte Kompositionen zu sehen: In der Flusslandschaft (1988) verdoppeln sich die Farb- und Lichtspiele des Himmels durch die Spiegelung im Wasser. Die dunkle Ortschaft wird eingefasst durch lebhafte und lichtvolle Zonen, in denen vom Weiß über Rosa und Braun bis hin zum Blau fast alle Farbtöne anzutreffen sind. Ähnlich extrem sind die Kontraste in der Industrielandschaft (Niederrhein) von 1998: Die Industriebauten, die durch die Schornsteine ihr markantes Profil erhalten, sind auf einen Schattenriss in der Bildmitte reduziert. Zum eigentlichen Thema wird das Spannungsverhältnis zwischen den braunen Erdschollen, die den Vordergrund einnehmen, und den kräftigen Blautönen des Himmels, vor die sich partienweise eine Wand aus Wolken, Dunst und Rauch geschoben hat.
Gebhard Schwermer war schon immer ein Meister darin, im Unscheinbaren das Eigenwillige einer Stadt oder Landschaft zu entdecken und es in seinen Gemälden und Zeichnungen so vorzustellen, dass es den Charakter des Außergewöhnlichen gewann. In den Aquarellen konnte er diese Kunst vervollkommnen. In ihnen ließ er das Starre und das Schwermütige zurücktreten, um das Atmosphärische und Stimmungsvolle zu entfalten. Wir werden Zeugen einer Dramatik. Bisweilen glaubt man den Wind zu spüren, der die Wolken über die Landschaften jagt.
Aber auch dort, wo die Szene zur Ruhe kommt, wo die Bewegung angehalten zu sein scheint, konnte Schwermer mit Hilfe der Aquarellfarben faszinierende Stimmungsbilder herausarbeiten. Reduziert man das 2004 entstandene Blatt Herbststimmung auf seinen puren erzählerischen Inhalt, dann hat das Aquarell nicht viel mitzuteilen: Man sieht ein braunes Feld, das zum Horizont hin durch kahle Büsche und Bäume sowie möglicherweise ein blau schimmerndes Gewässer begrenzt wird, und darüber einen Himmel, der in der Ferne hell leuchtet und im Nahbereich bezogen ist. In dieser Landschaft gibt es für das Auge kaum Haltepunkte. Aber eben dadurch porträtiert es auf treffende Weise die Weite (und Leere) des Niederrheins. Gleichwohl hat Schwermer ein Bild geschaffen, das voller Zauber und stiller Dramatik ist. Denn knapp vor der Linie mit den Büschen und Bäumen sowie dem mutmaßlichen Gewässer liegt auf dem braunen Feld ein schmaler Lichtstreif. Er ist nicht viel mehr als der Reflex einer Sonne, die sich verborgen hat, doch er wird zum Hauptgegenstand, zum belebenden Element des Bildes. Das herbstliche Aquarell erscheint wie die moderne Variante einer Rembrandtschen Komposition.
Es ist, als würden die Aquarelle ein Fenster ins Innere des Malers öffnen, als würden sie etwas offenbaren, was in seiner Malerei und auch in seinen Zeichnungen verborgen bleibt. Dafür spricht auch, dass Schwermer nach eigenem Bekenntnis zum Aquarellpinsel wie zu einer Entspannungsübung griff. Hier musste er nicht wie beim Ölbild sorgfältig Schicht für Schicht aufbauen, sondern konnte im schnellen Tempo landschriftliche Impressionen festhalten. Zwischen dem Impuls zum Malen und dem Fertigstellen der Komposition lagen nur Minuten. Und eben dabei passierte es, dass sich in das schnelle Porträt einer Landschaft Stimmungsmomente mischten, die sonst eher untergingen. In den seltensten Fällen entstanden die Aquarelle vor Ort. Unterwegs hatte Schwermer nicht die Aquarellfarben dabei, sondern eines seiner zahllosen Skizzenbücher, in dem er rasch das festhielt, was ihn bei seinen Spaziergängen und Wanderungen faszinierte. Die Bleistiftskizze genügte für die Erinnerung und als Basis eines malerischen Nachvollzugs.
Noch ein anderes Motiv ließ Schwermer immer wieder zur Aquarelltechnik greifen: Viele Amateurmaler nervt es am Aquarell, dass jeder Klecks und jede auch noch so blasse Einfärbung stehen bleiben, dass sie auch durch das Übermalen nicht zu verdecken sind. Gebhard Schwermer begriff diesen vermeintlichen Nachteil als Vorzug. In einigen Aquarellen kultivierte er die Flecken, indem er sie um- und übermalte, sie also noch stärker betonte, um dem Malen, der freien Kompositionsweise, zum Recht zu verhelfen. Gleich zwei Bilder aus der Reihe der Stadtansichten, die Baustelle (1983) und die Straße in Paris (2005), huldigen dieser freien, ins Abstrakte weisenden Malerei. Es ist jeweils eine leere Hauswand, die voller Lebens- und Verfallsspuren ist, die sich durch die Aktivierung der Flecken zum eigenständigen Bild entwickelt. Schaut man sich diese Flächen näher an, dann spürt man die Spannung, die Schwermer zwischen dem freien, chaotischen Spiel der Farben und der kompositorischen Strenge aufbaute.
Aus den transparenten Aquarellfarben entstehen offene Kompositionen. Ähnlich wie die Zeichnungen bleiben sie immer auch skizzenhaft. Anschaulich wird das vor allem in den Haus- und Stadtansichten: Wohl sind die Häuser fest gebaut, doch die Wirkung des Ensembles, der Zusammenklang der Häuser, ist wichtiger als die Festigkeit der Mauern. So stellen sich die Aquarelle wie Momentaufnahmen vor, die über das Auge sehr viel stärker als die Gemälde auf die Stimmungslage zielen.
In diesem Band sind die unterschiedlichsten Motive aus rund 20 Jahren zusammengefasst. Die Reihenfolge der Bilder hat noch Gebhard Schwermer selbst festgelegt. Das muss man wissen, um zu verstehen, warum es weder eine chronologische Ordnung gibt noch eine geografische Orientierung. Der Maler wollte keine Entwicklung dokumentieren, auch kein Reisetagebuch vorlegen. Bei der Auswahl und Festlegung der Abfolge ging es ihm vielmehr um verwandtschaftliche Zuordnungen, um gleichartige Stimmungen und kompositorische Entsprechungen. So findet man die Straßenszenen und die Küstenlandschaften jeweils beieinander oder die wild bewegten Wolkenbilder und die Schneelandschaften. Folglich kann man die Gruppierung der Bilder als ein testamentarisches Bekenntnis verstehen. Gebhard Schwermer brauchte in dieser Serie der Aquarelle keine Entwicklung zu dokumentieren, weil seine Technik ausgereift war, als er die frühesten Bilder schuf. Aber auch die geografischen Bezüge der Bilder erschienen ihm nachrangig. Nicht die Erinnerungen an Orte und Landschaften waren ihm wichtig, sondern die Kompositionsweisen, die Wechselspiele von Wolken und Feldern, die flüchtigen Stimmungen des Wetters und die im Dunkel verborgene Farbigkeit.
Die Aquarelle verweisen auf eine zweite Natur des Künstlers. Der stets besonnen und ruhig wirkende Maler, dem der geduldige Aufbau eines Ölgemäldes auf den Leib geschrieben schien, verfügte eben auch über eine große Lust am Spontanen und an der Dramatik. Im Aquarell konnte er sich direkt ausleben und äußern. Er konnte Stimmungen und Gefühle ausmalen und künstlerische Expeditionen ins Ungewisse unternehmen.
Oktober 2007