Die Dynamik der Bilder

Zur Eröffnung der Ausstellung „Spuren nach innen“ im Emschertal-Museum, Herne

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist genau sieben Jahre her, dass Rolf Escher in diesem Museum einen Einblick in sein zeichnerisches und grafisches Werk gab. Damals war der Zyklus „Bücherzeiten“ zu sehen, eine Bilderfolge, die zur Rundreise durch die ehrwürdigen deutschen Bibliotheken einlud. Die Ausstellung wurde zu einem derartigen Erfolg, dass die auf zwei Jahre konzipierte Tournee immer noch nicht beendet ist. Anklänge an das Thema „Bücherzeiten“ finden Sie auch in dieser Ausstellung, in der Motive aus deutschen Städten versammelt sind.

Die Zeichnungen und Druckgrafiken sind in einem langen Zeitraum entstanden. Manches ergab sich eher zufällig, anderes ging aus Projekten hervor – wie die Blätter, die Rolf Escher Ende der 70er-Jahre in der Wuppertaler Nordstadt schuf. Die Ausstellungen „Spuren nach innen“ kann man als ein Gemeinschaftswerk des Zeichners sowie des Museumsleiters Dr. Alexander von Knorre ansehen, der sich das Thema wünschte und Rolf Escher dazu brachte, sich in der jüngsten Zeit verstärkt auf die „zeichnerische Suche in Deutschland“ zu begeben.

Die Ausstellung ist geographisch, nach Ländern und Landschaften, geordnet. Sie lädt zu einer Rundreise ein. Wir beginnen im Ruhrgebiet und im Bergischen Land, um bis nach Bremerhaven, an den Bodensee, nach Weimar, Dresden und Berlin zu gelangen. Obwohl Rolf Escher ein Künstler ist, der sich in erzählerischer Weise mit dem Sichtbaren auseinandersetzt, ist der die Ausstellung begleitende Katalog nur bedingt als Reiseführer zu nutzen. Der Titel erklärt auch, warum das so ist: Der Zeichner hält sich nicht lange bei den symbolhaften Sehenswürdigkeiten auf, sondern folgt den Spuren nach innen, um das für ihn Wesentliche freizulegen.

Wuppertaler Fenster Reiseerinnerungen Theater am Schiffbauerdamm

Diejenigen von Ihnen, die Rolf Escher und sein Werk schon länger kennen, werden manchem vertrauten Motiv wieder begegnen. Dazu gehören etwa die aufgereihten Koffer in der Zeichnung „Reiseerinnerungen“ oder die schmale Kommode, in deren Schublade der altmodische Wecker steckt. Aber auch die langjährigen Wegbegleiter des Künstlers entdecken Überraschendes- beispielsweise die aquarellierte Tuschfederzeichnung von der Müngstener Brücke oder das monumental wirkende Blatt einer Schiffswert in der gleichen Technik. Das Bild von dem in der Werft entstehenden Schiff ist mit schnellen, dicht gesetzten Federstrichen umrissen und mit dem Aquarellpinsel flüchtig zum Malerischen geführt. Gleichwohl tritt es klar und plastisch hervor.

Seit mehr als drei Jahrzehnten verfolge ich die Entwicklung von Rolf Eschers Werk. Ich weiß, dass er weit mehr skizziert und gezeichnet hat, als ich im Laufe der Jahre gesehen habe. Doch war ich bis vor kurzem der Meinung, alle Facetten zu kennen. Bei der Vorbereitung des Kataloges und der Ausstellung wurde ich eines Besseren belehrt: Rolf Escher öffnete nämlich erstmals ein Fenster, das den Blick auf seine frühesten Arbeiten freigibt, kleine Blätter, die er als Schüler noch, also vor über 50 Jahren, gestaltet hat. Damals war er noch gar nicht auf dem Weg zur Künstlerschaft. Wenn Sie aber die Miniatur „Kurhaus in Baden-Baden“, die im Katalog abgebildet ist, genau studieren, werden Sie sehen, wie überzeugend damals schon das Talent hervorgetreten ist.

Was mich an dem Blatt, das nur 8×12 Zentimeter groß ist, so fasziniert, ist der souveräne zeichnerische Zugriff. Wie aus dem Nichts tauchen auf der rechten Seite Gebäudefassaden auf, in denen die Zeichnung ihre höchste Konzentration erfährt. Aufgenommen wird diese intensive, von Schwarztönen geprägte Dichte durch Büsche und Bäume, die sich in der Bildmitte um das Zentralmotiv gruppieren. In der kleinen Form entsteht ein großer Entwurf. Es ist, wenn man so will, ein monumentales Blatt.

Aber die Zeichnung fesselt mich nicht nur deshalb, weil sich in ihm so frühzeitig ein großes Talent zu Wort gemeldet hat. Die eigentliche Größe liegt für mich darin, dass Rolf Escher bereits als Schüler den Kunstgriff beherrschte, sein Motiv aus der Umgebung herauszulösen und es wie ein Zitat einzusetzen. Zu den Rändern hin verflüchtigt sich die Zeichnung. Sie verliert sich im Ungewissen, und wir die Betrachter, sehen sie dort vollendet, wo sie sich mit Andeutungen begnügt. Das heißt: Damals, vor 53 Jahren, war in der Zeichnung bereits das angelegt, was später die weitaus meisten Arbeiten von Rolf Escher prägen sollte, nämlich die Kunst, durch zeichnerische Konzentration ein Objekt so zu veranschaulichen, dass es auch dort noch plastisch erscheint, wo es nur skizzenhaft angedeutet ist. Sie finden in dieser Ausstellung mehrere Beispiele dafür. Ich möchte nur stellvertretend an die Zeichnungen aus dem Theater am Schiffbauerdamm erinnern. Da sehen sie eine fast barock wirkende Treppe, die mit fest umrissenen Stufen und einem maskenhaften Gesicht ansetzt und die sich in der Bildmitte förmlich im Nichts verliert.

Die Ausstellung vereint unglaublich viele Aspekte. Wir sehen klassische Architekturformen von der Gotik über die Barockzeit bis zur Gründerzeit und daneben Bauten des industriellen Zeitalters. Wie ist das alles zu einander zu bringen und in einer Bildwelt zu vereinen? Manchmal hat es den Anschein, als suchten sich die Objekte den Zeichner aus und nicht umgekehrt. Wenn Bauten etwa ihre Glätte und ihren Glanz verloren haben, wenn unter abblätterndem Putz der spröde Charme der Gebäude hervortritt oder wenn die Lebensspuren unübersehbar sind, dann fühlt sich Rolf Escher herausgefordert. Über eine Villa, die ihn bald nach der Wende in Dresden zum Zeichnen herausforderte, sagte Rolf Escher: Möglicherweise hätte die Villa ihn Jahre später gar nicht mehr gefesselt, weil sie inzwischen restauratorisch derart veredelt worden war, dass sie ihren Charakter verloren hatte.

Ich glaube jedoch, dass jenseits dieser Erfahrung für Rolf Escher einzelne Formprinzipien leitend sind. Entdeckt er sie in der Wirklichkeit, dann wird sein zeichnerisches Interesse geweckt. Eines dieser Elemente ist für mich der geschwungene Bogen.

Wenn Sie aufmerksam die Ausstellung durchwandern oder den Katalog durchblättern, werden Sie Dutzende von Zeichnungen finden, die durch Bögen geprägt sind. Sie spiegeln nicht nur ein durchgängiges Architekturprinzip, sondern sie verleihen den Zeichnungen auch stets eine ungeheure Dynamik. Es sind, um ein paar Beispiele zu nennen, der Spitzbogen im Lüneburger Rathaus und die Gewölbe in Clemenswerth, das Treppengeländer in der Berliner Invalidenstraße und der Bogen der Müngstener Brücke, das Deckengewölbe im Theater am Schiffbauerdamm und die Röhren in der Zeche Zollverein.

Wenn man dieser Sichtweise zustimmt, dann beantwortet sich die Frage von selbst, wieso hier ein neobarocker Raum und dort ein funktionaler Stahlbau das gleiche Interesse finden: Der Zeichner legt quer durch die Epochen architektonische Elemente frei, die zu allen Zeiten großzügig und schwungvoll wirkten. Das heißt: Wir bewegen uns in einer durchgängigen Formenwelt, ob es sich nun um die von Scharoun erbaute Berliner Staatsbibliothek, um die Eingangshalle des Frankfurter Hauptbahnhofs oder das Treppenhaus in der Berliner Invalidenstraße handelt.

Zur Eigenart von Eschers Bilderwelt gehören die Fenster. Sie stellen die Beziehung vom Innen und Außen her, sie lassen Licht herein und ermöglichen den Ausblick. In dem Werk von Rolf Escher bilden allerdings die Blätter eine Minderheit, die – wie bei dem „Wuppertaler Fenster“ von 1980 – einen wirklichen Ausblick zulassen. In den meisten Fällen sind sie geschlossen und dienen bestenfalls als indirekte Lichtquellen, als leuchtende oder spiegelnde Elemente. Der Zeichner aktiviert die Fenster nicht als Vermittler zwischen dem Innen und Außen, sondern widmet sich ihnen lieber als den Architekturformen. Sehr schön führen das die beiden Zeichnungen vor, die Rolf Escher 2006 vor und in der ehemaligen Bandwirkerei in Wuppertal-Barmen schuf. Denn in diesen beiden Blättern wird die vielgliedrige Struktur der Fenster zu einem tragenden Element der Architektur. Sie geben den Rhythmus vor und verhelfen dem Gebäude zu seinem Charakter. Die meisten Fenster in Eschers Arbeiten haben mit dem Durch- und Ausblick nichts im Sinn. Sie verweisen oft nur auf sich selbst.

Als dritten und letzten Punkt, der für Eschers Werk charakteristisch ist, möchte ich die Bauplastik nennen, die im Barock und dann nochmals im Historismus und Jugendstil ihre große Blütezeit erlebte. Während die menschlichen Figuren, wenn sie überhaupt auftauchen, meist schemenhaft bleiben, widmet sich Rolf Escher den Büsten und an Kanzeln, Säulen und unter Decken schwebenden Figuren in den Kirchen, Bibliotheken und Theatern mit unglaublicher Zuwendung. In den Bildern aus dem Berliner Dom, aus Sanssouci, aus dem Theater am Schiffbauerdamm oder aus der Klosterkirche Rottenbruch gibt er dem Figurenschmuck eine solche Ausdruckskraft, dass man glaubt, lebendige Wesen vor sich zu haben. Die Verhältnisse werden förmlich auf den Kopf gestellt.

Ich hatte davon gesprochen, dass es Rolf Escher liebt, seine Motive aus dem Zusammenhang herauszulösen und sie torsohaft zu präsentieren. Es gibt absolute Ausnahmen davon. Die eine ist die Kaltnadelradierung von der Staatsbibliothek, die Rolf Escher 2006 anfertigte. Nicht nur wegen ihrer samtenen Schwarztöne, die der Technik zueigen ist, wirkt das Blatt so anders. Es überrascht vor allem dadurch, dass es in jeder Hinsicht bis ins Detail ausgeführt ist und selbst an den Rändern nicht skizzenhaft wird. Damit nähert sich das Blatt einer Kompositionsweise an, die das „Treppenhaus zum Atelier“ aus dem Jahre 1978 auszeichnet. Das sind Kontrapunkte, die unterstreichen, dass der Zeichner sonst einen völlig anderen Weg geht.

9. 3. 2007

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