Die Umkehrung des Prinzips

korrespondenz@maria-eichhorn.de im Kasseler Kunstverein 30. 8. – 23. 11. 2003

Seit einigen Jahren pflegt der Kasseler Kunstverein die Tradition, dem jeweiligen Arnold-Bode-Preisträger nach vollzogener Ehrung eine Einzelausstellung einzurichten. Dementsprechend erging eine Einladung an Maria Eichhorn, die während der Documenta 11 den Preis erhalten hatte, in der sie mit ihrer Maria-Eichhorn-Aktiengesellschaft vertreten war. Da die in Berlin lebende Künstlern dadurch bekannt geworden ist, dass sie Ausstellungen dazu nutzt, den Ausstellungsbetrieb zu unterlaufen und künstlerische wie gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten punktuell auszuhebeln, war auch für den Kasseler Kunstverein eine Regelverletzung zu erwarten.

Maria Eichhorn und der Kunstverein verständigten sich darauf, die Ausstellung für genau den Zeitraum zu verabreden, in dem die Räume des Kunstvereins nicht zur Verfügung standen, weil sie von der Kunsthalle Fridericianum für die Ausstellung „In den Schluchten des Balkan“ benötigt wurden. Folglich entschied sich Maria Eichhorn für ein Projekt, das nicht der klassischen Räume bedarf. Sie verlegte die Ausstellung auf die Ebene des elektronischen Schriftverkehrs, richtete die E-Mail-Adresse korrespondenz@maria-eichhorn.de ein und lud die Besucher dazu ein, während der Laufzeit der Ausstellung mit ihr zu korrespondieren.

Gleichwohl hielt die Künstlerin an dem Ausstellungsbegriff fest. In den Veranstaltungskalendern der regionalen Publikationen war die als Korrespondenz angelegte Ausstellung wie sonst üblich mit Ort und Öffnungszeiten verzeichnet. Auch das Transparent im Portikus des Fridericianums lockte zu dem Ausstellungsereignis, das dort, wo man es erwartete, nicht zu sehen war. In den Räumen des Kunstvereins fand man nur die Einladungskarten zur Korrespondenz vor, ansonsten sah man Werke der Balkan-Künstler.

Damit forderte Maria Eichhorn dazu heraus, über das Wesen und die Grenzen von Ausstellungen nachzudenken. Denn: Kann man noch von einer Ausstellung sprechen, die auf sichtbare Bilder und greifbare Objekte an einem konkreten Ort verzichtet und sich auf den Austausch von E-Mails reduziert? Die Erfahrung mit dem Projekt zeigt, dass es möglich ist. Schließlich wurden die formalen Grundbedingungen erfüllt: Es gab die Einladungskarten zur Ausstellung, es gab den Kunstverein als Bezugsort und es gab die fest umgrenzte Laufzeit.

Allerdings schrumpften die Räume des Kunstvereins zum bloßen Info-Center. Der Zugang zur eigentlichen Ausstellung wurde erst mit dem Abschicken der E-Mails an die eingerichtete Adresse erreicht. Diese Umstände stellten die Ausstellungsbesucher vor ungewohnte Bedingungen: Außer der Vorstellung von dem bisherigen Werk von Maria Eichhorn und der Adresse hatten sie keinen Bezug. Die Künstlerin hatte nämlich nur den Rahmen vorgeben, aber nicht erläutert, womit man sich innerhalb dieses Rahmens beschäftigen sollte.

Wie schon bei ihrer Aktion in Leipzig (1995) hatte die Künstlerin das Prinzip umgekehrt: Die inhaltliche Ausfüllung (Autorschaft) wurde den Besuchern übertragen. In Leipzig wurden diejenigen, die an dem Projekt teilnehmen konnten, mit dem Zug zu den Endstationen der Bahnverbindungen geschickt, die nach Leipzig führen. Nicht die Künstlerin stellte durch ihre Reisen die Bezüge zu den Endstationen her, sondern die ausgewählten Besucher. Der Unterschied zu normalen Bahnfahrten lag für sie darin, dass sie im Sinne und Auftrag von Maria Eichhorn reisten und somit durch die Fahrt, ihre Erlebnisse und Gedanken den Ausstellungsraum füllten, der allerdings nur in Form der Einladung und Fahrplanplakate sichtbar wurde.

Auch bei Maria Eichhorns Kasseler Projekt fiel die Bringschuld an die Besucher. Sie mussten von sich aus die Initiative ergreifen, insbesondere mussten sie das Thema vorgeben, über das sie mit Maria Eichhorn korrespondieren wollten. Damit spitzte die Künstlerin die Frage zu, ob denn wirklich bei den Besuchern ein ernsthaftes Interesse am Dialog vorhanden sei, wenn nichts zu sehen ist, auf das man sich beziehen kann. Insofern waren das völlig andere Bedingungen als bei dem documenta-Beitrag von Joseph Beuys im Jahre 1972, als dieser auf einen klassischen Werk-Beitrag verzichtet hatte und sich für 100 Tage den Besuchern zur Diskussion bereit hielt. Denn alle Gespräche in dem Büro von Beuys, ob sie nun die Politik oder die Kunst betrafen, waren bezogen auf die Idee der direkten Demokratie durch Volksabstimmung.

An die Korrespondenz hatte Maria Eichhorn nach eigenem Bekenntnis keine besonderen Erwartungen geknüpft. Sie antwortete knapp und präzise auf die bei ihr eingehenden E-Mails; wer Lust auf Fortsetzung verspürte, musste auch beim zweiten Mal selbst Vorgaben geben. Diese kargen Bedingungen mochten dazu beitragen, dass sich die Zahl der Korrespondenz-Teilnehmer (einige Dutzend) in Grenzen hielt. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass die Besucher nicht von einander wussten und dass somit der übliche Austausch über die Ausstellung wegfiel.

Ein Reiz des Projektes bestand darin, dass ein vielgestaltiges Beziehungsgeflecht zwischen der Künstlerin und den Besuchern entstanden war, das die E-Mail-Adresse korrespondenz@maria-eichhorn.de zum zentralen Ausstellungsort machte. Folglich ist Maria Eichhorn die einzige, die die Ausstellung in ihren wahren Dimensionen kennt. Für die Teilnehmer bleibt nur die Gewissheit, dass sie wesentlich zum Zustandekommen beigetragen haben und dass Ausstellungen außerhalb von Räumen als Netzwerke möglich sind.

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