Von der Kultur des Lesens und deren immerwährende Bedrohung

Zur Ausstellung von Rolf Escher in Bad Hersfeld

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie lernen hier einen kleinen, bescheidenen Ausschnitt aus dem zeichnerischen und grafischen Werk von Rolf Escher kennen. Der in Essen beheimatete Künstler hat sich mit großer Intensität den Dingen zugewandt, die uns überliefert wurden, die Spuren des Lebens und Alterns mit sich tragen, vom Verfall bedroht sind und die Geschichten erzählen. Stillleben sind so entstanden, Ansichten von Räumen und Fassaden, von Interieurs und Plätzen. Ein besonderes und mittlerweile umfangreiches Kapitel in diesem Werk bilden die Zeichnungen und Grafiken, die den alten Büchern und prachtvollen Bibliotheken gewidmet sind. Unter dem Titel „Bücherzeiten“ reist seit dem Jahr 2000 eine Ausstellung durch die Lande, die der heute vielfach bedrohten Kultur des Lesens huldigt.

Bad Hersfeld und das Gelände der Stiftsruine mögen zwar mehr zufällig zu einer Station der Tournee geworden sein, doch zu den „Bücherzeiten“ stellt sich an diesem Ort ein unmittelbarer, wenn auch schmerzlicher Bezug her. Denn wenn die Dinge günstiger gelaufen wären, hätte Rolf Escher in der ehemaligen, von Abt Gotzbert zwischen 970 und 985 gegründeten Klosterbibliothek der Reichsabtei Hersfeld Handschriften und Bücher finden und zeichnen können. Doch der Niedergang der Abtei im 14. und die Einverleibung durch die hessischen Landgrafen im 15. Jahrhundert stellten die Zukunft der Bibliothek in Frage. Vernichtend sollten die Folgen der Reformation werden. Die Handschriften und Bücher wurden weggeworfen, zerstört, zerschnitten, zur Abdichtung von Ritzen verklebt und im besten Fall verkauft. Ein geistiger Kosmos ging verloren. Nur fünf Handschriften sind in der Kasseler Landesbibliothek erhalten, andere kleine Fragmente wurden mühsam in jüngster Zeit in Kirchen gesichert. Merkwürdigerweise hat das Schicksal dieser einst bedeutenden Klosterbibliothek, die zu einer dem Papst und Kaiser direkt unterstellten Abtei gehörte, noch kein Historiker aufgegriffen, der die Plünderung der Bibliothek, die sich vom 16. bis ins 17. Jahrhundert hinzog, genau erforscht und aufgezeichnet hätte.

Ich denke, wir schulden nicht nur diesem Ort diese Erinnerung. Rolf Eschers Arbeiten provozieren immer wieder Gedanken in dieser Richtung: Ist der Mensch in seiner selbst geschaffenen Bücherwelt nicht da, drohen die Dinge aus dem Ruder zu laufen. In Eschers Zeichnungen, Radierungen und Lithographien spielt der Mensch eine seltsame Rolle. Nur gelegentlich taucht er auf – als flüchtige Figur, als Schatten oder als Gestalt, die man von hinten sieht. Noch häufiger findet man ihn gar nicht vor, weil er, wie es in den Bildern von Rolf Escher scheint, gerade die Szene verlassen hat. Man spürt ihn, man ahnt ihn, aber er wird nur selten greifbar. Umso leichter können hinter seinem Rücken die Dinge zu Leben erwachen und die Krebse, Käfer und Krähen die Regie übernehmen.

Der Zeichner begnügt sich nicht mit der Wiedergabe des Sichtbaren. Er formt das Wirkliche in seinen Bildern um; er spitzt zu und entwickelt aus dem, was er gesehen hat, Bühnen für Visionen und Geschichten. Absurdes Theater vollzieht sich da, man erlebt Grotesken, die mit Witz und einem Sinn für das Morbide vorgetragen werden. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit und Eleganz windet sich im Münchner Rathaus die Wendeltreppe nach oben, damit man auch die Bücherreihen au den beiden Emporen erreichen kann. In einer Zeichnung hat Rolf Escher seine ganze Kraft darauf verwandt, die schöne Zartheit des floralen Gitters der Treppe und Emporen einzufangen. In einer Radierung streckt Escher den Raum in die Höhe und verlängert die Wendeltreppe um zwei weitere Drehungen. Die Architektur wird ins Maßlose getrieben. Aber nicht genug: Um die Wendeltreppe, die bedrohlich Schatten wirft, kreisen Krähen wie die Vorboten eines Untergangs. Unwillkürlich denkt man an das Schicksal der Hersfelder Bibliothek. Aber hat es nicht immer Vernichtungen, Verbote und Verbrennungen von Büchern gegeben? Die Bedrohung der in Leder und Leinen gebundenen gedruckten Seiten lässt offenbar werden, welche Explosivkraft in den Büchern vermutet wird.

In der mit Farbstift akzentuierten Zeichnung „Büchersturz in London“ lässt Escher die Schreckensvision Realität werden: Aus der Kuppel der Londoner Bibliothek stürzen die Bücher nach unten, als sollten die Leser und Bibliothekare erschlagen und die Bücher vernichtet werden. Der Alptraum eines jeden Bücherfreundes wird wahr. Hier wird ein geistiger Vorrat vernichtet. Die vier Rundbogenfenster wirken angesichts dieses Frevels wie stumme und stolze Zeugen. Die Gedankenverbindung zum Prager Fenstersturz ist gewollt.

Harmloser entwickelt sich die von Escher erdachte Geschichte in der Radierung „Später Besuch“. Ein einsamer Leser sitzt wie verloren unter der hohen Bibliothekskuppel. Aber auf dem Lesetisch im Vordergrund hat sich unter der Lampe ein Käfer breit gemacht, der den Leser ins Visier nimmt. Er scheint darauf zu warten, dass auch dieser letzte Mensch den Lesesaal verlässt, damit die krabbelnden Kreaturen die Bücher und Regale für sich alleine haben. Das Blatt wirkt wie ein später Reflex Eschers auf seine Radierfolge zu Kafkas Erzählung „Verwandlung“, in der ein Mensch als Käfer erwacht.

Aber vor den Geschichten kommt die Realität, kommt die faszinierende Verbindung von Buch und Raum. Die Epochen des Barock und Rokoko, die eine große Lust an den runden, ovalen und verspielten Formen entwickelten, brachten fantastische Bibliotheksbauten hervor. Paläste und Kathedralen des Wissens entstanden. Das Buch, das wertvolle Erkenntnisse und kostbare Worte sowie Bilder von Generation zu Generation weiterträgt, wurde von den Fürsten und Bischöfen genauso ernst genommen wie der nach Schönheit verlangende Mensch. Den hohen Anspruch, der an die gesammelten Handschriften und Bände gestellt wurde, übertrugen die Äbte, Bischöfe, Fürsten und vornehmen Bürger auf die Räume, in denen die Bücher aufbewahrt und bereitgehalten wurden. Rolf Escher hat auf seinen Streifzügen durch die Bibliotheken in seinen Zeichnungen festgehalten, welchen Reichtum an Ideen seit der Gotik die Büchersammler bei ihren Architekten provozierten, als sie sie beauftragten, Bibliotheken zu errichten und auszugestalten. In der Bildserie wird ein Aspekt der Lesekultur sichtbar, den wir uns nur selten bewusst machen. Der zeichnende Erzähler Escher hat hier sein ureigenes Thema gefunden – in der Verknüpfung von Literatur, Architektur und Kunst.

Lassen Sie mich für den Formenreichtum und die Schönheit der Bibliotheksarchitektur nur drei Beispiele nehmen: die Universitätsbibliothek in Coimbra mit ihren hohen Rundbögen, den prachtvollen Saal der Irischen Nationalbibliothek, der mit seiner Kuppel wie eine Kathedrale erscheint, und die oval geschnittenen Obergeschosse der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, die mit einem Teil ihrer Bestände zum Brandopfer geworden ist.

Aber selbst dann, wenn Escher die vorgefundene Architektur zeichnend aufnimmt und spiegelt, formt er die Welt nach seinem inneren Bilde. Er überhöht die Achsen, verdichtet die Ornamente, verlängert oder verkürzt die Perspektiven. Hier fügt er eine Leiter hinzu, dort deutet er ein kleines Chaos an. Nehmen Sie die mit Aquarell überarbeitete Tuschfederzeichnung von der Universitätsbibliothek in Coimbra. Wir sehen eine prachtvolle Raumfolge, die mit ihrer gewaltigen Höhe und anscheinenden Unendlichkeit einen grenzenlosen Wissensvorrat verheißt. In diesen Räumen herrscht strengste Ordnung. Der Zeichner jedoch stellt sie in Frage. Denn vorne liegen, nur andeutungsweise umrissen, einige aufgeschlagene Bücher auf dem Boden. Es ist, als würde das stolze System ins Wanken geraten und ein Spalt sich öffnen.

Zur prachtvollen Ausstattung der Räume gehörten in vielen prachtvollen Bibliotheken Büsten und Standbilder der Geistesheroen, von denen Bücher gesammelt wurden oder mythologische Gestalten. Die von August Friedrich Straßburger 1761-66 ausgestaltete Weimarer Bibliothek war mit ihren Büsten und Bildern von Anfang an fast wie ein Museum angelegt worden. Escher scheint in seinen Bildern diese Figuren zum Leben zu erwecken. Eine stumme Zwiesprache entsteht; als Betrachter fühlt man sich gelegentlich beobachtet. Die Büsten auf der Empore der Weimarer Bibliothek wirken wie die Teilnehmer an einem Gespräch am runden Tisch. Und in dem Blatt aus dem Dubliner Trinity College scheint sich die vordere Gestalt spontan nach rechts zu wenden, um den langen Raum zu überblicken.

Rolf Escher ist ein Meister der unmerklichen Verwandlung. Er benutzt die gefundenen Bilder nicht nur gelegentlich als Bühnen für seine grotesken Geschichten, sondern er erweckt auch die Dinge zum Leben und provoziert in uns Gefühle, wenn er kostbare alte Bände in ihrer Schadhaftigkeit so vorführt, dass wir Mitleid empfinden, oder wenn er die an schwere Ketten gelegten Bücher uns wie Gefangene präsentiert.

Der Zeichner und Grafiker spielt aber auch immer wieder mit seinen Möglichkeiten und lenkt die Aufmerksamkeit auf sein künstlerisches Arbeiten. In der Radierung „Wolfenbüttler Bücher-Stillleben“ sehen wir einen Bücherstapel, auf dem der oberste Band auf geschlagen ist. Wir erkennen Buchstabenfolgen auf einer nach oben stehenden Seite; ein Spiegel lässt uns erkennen, was auf der Rückseite des Blattes festgehalten ist. Nicht genug: In dem Spiegelbild wird ein weiterer Spiegel sichtbar, der ausschnitthaft eine Gesichtshälfte des Künstlers zeigt. Er, der das Stillleben vor sich sieht und einfängt, wirft auch noch von hinten einen kontrollierenden Blick auf die Szene und porträtiert sich somit selbst.

Juni 2005

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