Von der Schönheit des Wissens

Rolf Eschers Ausstellung „Bücherzeiten“ in der Paulinerkirche Göttingen

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Die vor zwei Jahren auf den Weg gebrachte Ausstellung „Bücherzeiten“ war ursprünglich für sechs Stationen geplant. Mittlerweile sind es aufgrund des lebhaften Echos, das die Ausstellung hervorrief, weit mehr geworden. Unter den ersten sechs Orten war, was die Buchkultur angeht, der prominenteste gewiss die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Die gezeichneten und gedruckten Bilder aus historischen Bibliotheken inmitten einer berühmten Büchersammlung zu sehen, war ein schönes Erlebnis. Das Auge wurde doppelt herausgefordert, weil die Bilder offenbar machten, dass der Reichtum des Wissens, der in den Büchern steckt, durch die Schönheit der handwerklich gekonnt gedruckten und gebundenen Bücher ergänzt wird.

Gleichwohl darf ich Ihnen versichern, dass die Präsentation, in der Sie sich befinden, die Wolfenbüttler Ausstellung klar in den Schatten stellt. Nicht bloß, weil an dieser Stelle mehr Blätter gezeigt werden können als in der prominenten Bibliothek, und auch nicht, weil ein paar neuere Arbeiten, außerhalb des Kataloges, hinzu gekommen sind. Die hier eingerichtete Ausstellung bringt den Gegenstand des Interesses und die Bilder, die davon berichten, so sehr in Einklang, dass jemand, der erstmalig den Raum betritt, meinen könnte, Raum und Ausstellung seien eins. Die Vitrinen scheinen für die Bilderwelt Eschers gemacht zu sein. In den vielen Jahren, in denen ich die Entwicklung dieses Zeichners verfolgt habe, habe ich bisher keine Ausstellung erlebt, in der die Bilder so kongenial präsentiert wurden. Man blickt auf die in Bildern fassbar gemachten Bände und Folianten; und im nächsten Augenblick fällt der abschweifende Blick auf die real vorhandenen historischen Bücher. Für diese Möglichkeit haben wir auch den verantwortlichen Planern dieser architektonischen Gestaltung zu danken.

Überraschend ist, wie vertraut die Bilder in dieser Umgebung wirken. Viele Zeichnungen, Radierungen und Lithografien erscheinen als Spiegelungen und Variationen dieses Raumes. Dabei meine ich gar nicht in erster Linie die Blätter, die Rolf Escher hier vor Ort gezeichnet hat. Ich denke eher an die Bilder aus Oxford und Cambridge, aus Zutphen und Gaesdonck sowie aus Emden und Berndkastel. Obwohl ich mich bereits bei der Erarbeitung des Kataloges mit diesem Themenbereich Eschers ausführlich befasst habe, ist mir erst in dieser Umgebung bewusst geworden, wie viele der ehrwürdigen Bibliotheken in kirchlichen Bauten eingerichtet sind und wie prägend die Sprache der Gotik für ein Großteil der Bilder geworden ist. Die strenge spitzbogige und bei aller Weite spartanisch wirkende Formgebung der Paulinerkirche findet ihren Widerhall in zahlreichen Arbeiten Eschers. Hinzu kommt, dass in diesem Raum wie in vielen Bildern die Porträtköpfe prominenter Denker und Bibliothekare die Regale flankieren. Ein Glück, dass diese Begegnung möglich wurde.

1978 hatte Rolf Escher schon einmal aktuelle Arbeiten in Göttingen gezeigt. Damals war er Gast in der Galerie Apex – mit völlig anderen Zeichnungen und Radierungen. An Bücher und Bibliotheken als Thema war damals noch nicht zu denken. Lebhaft erinnere ich mich daran, dass Eschers Bilder von den gealterten Dingen und bröckelnden Fassaden in einer Diskussion in der Galerie zu der Behauptung verführten, Rolf Escher sei ein sozialkritischer Künstler. Sicherlich wird er da zum Sozialkritiker, wo er vom Untergang Bedrohtes für die Nachwelt festhält. Aber erst einmal ist er an der Komposition interessiert, an der Frage, wie genau muss ich im Detail sein und wie abstrakt kann ich bleiben, um die Atmosphäre einzufangen. Und dann interessiert ihn alles, was vom menschlichen Leben zeugt. Oftmals erfährt man in jenen Bildern, in denen niemand zu sehen ist, mehr über den Menschen als dort, wo jemand die Szenerie belebt. Oftmals scheint es so, als habe gerade jemand den Raum verlassen und kehre gleich wieder zurück. Da hängt noch eine Jacke, dort liegt eine Zeitung oder ein Buch und hier stehen Koffer. Auf seinen Italienreisen hatte Escher zu Anfang der 80er-Jahre erstmals Bibliotheken als bildnerische Räume wahr genommen. Gleichzeitig hatte er die Auseinandersetzung mit dem Gedruckten, vornehmlich mit Zeitungen, gesucht. Die Zeichnung, die den runden, zweistöckigen Zeitungsständer zum Thema hat, legt Zeugnis davon ab.
Jeder wird in der Ausstellung seine eigenen Vorlieben entdecken. Besonders anrührend finde ich die Kettenbücher. Obwohl ich weiß, dass die Ketten dem Schutz der Bücher dienen, wirken die in Ketten gelegte Bücher auf mich wie Gefangene. Eine andere Buchform habe ich erst durch Rolf Eschers Zeichnungen kennen gelernt – das Beutelbuch. Mit besondere Liebe und Sorgfalt wird dieses Buch porträtiert, das an den Gürtel zu binden war und somit ein Vorläufer des Taschenbuchs war. Insgesamt aber, so werden sie bald merken, sind die Bücher in den Bildern meist Staffage, eine Kulisse für Räume und Schauplätze.

Die Ausstellung enthält auch Arbeiten, die erst nach Fertigstellung des Kataloges entstanden sind. Darunter befinden sich die Blätter, die Escher hier in der Paulinerkirche gezeichnet hat. Lassen Sie mich bitte kurz auf zwei Zeichnungen eingehen, die erst wenige Wochen alt sind. Über beide gelange ich zu einer wesentlichen Eigenart von Eschers Zeichenkunst.

Die eine Arbeit erscheint wie das Bild einer Handbibliothek, die in Unordnung geraten ist. Zwar stehen die Bücher in einer Reihe, doch wild durcheinander – mal blickt man in die leicht geöffneten Bücher hinein, dann wieder schaut man auf die Buchrücken. Die Bücher scheinen sich aufzulösen, zu verfallen: Seiten lugen hervor, so dass man die Texte erkennen kann, und herausgerissene Textstreifen machen sich selbständig. Das Bild wirkt wie ein Abgesang auf die überlieferte alte Literatur. Trotzdem wäre es falsch, Rolf Escher zu unterstellen, er lege sich mit dem Zeitgeist an, um die alte Form zu bewahren. Nein, hier setzt sich eher, wie ich noch zeigen werde, eine andere, eine erzählerische Natur durch, die eine gewisse Lust am Untergang spürt, die zuspitzt und ausmalt und ins Groteske übertreibt. Dabei bedient sich Escher erstmals überhaupt der Collagetechnik. Eine Premiere also.

Die andere Arbeit stellt uns eine Bibliothek vor, die zu einer völlig andere Art des Lesens führt. Es handelt sich um die Holzbibliothek des Tierpräparators und Naturforschers Schildbach, der vor über 200 Jahren in Kassel ein Nachschlagewerk zu sämtlichen der Region vertretenen Baumarten anfertigte, indem er in Buchform aus dem Holz und der Rinde des Baumes einen Kasten baute, in den er Blätter, Blüten, Früchte und Samen des Baumes sowie Blütennachbildungen und genaue Beschreibungen legte. Die Schildbachsche Holzbibliothek würde auch in dieser Umgebung Staat machen. Sie ist heute eine der Attraktionen des Naturkundemuseums Kassel. Escher zeigt uns die Bibliothek in einiger Entfernung. Ihre Eigenart würden wir kaum erkennen, hätte Escher nicht unter das Blatt eine Erklärung Schildbachs gesetzt. Das Besondere ist für uns beim ersten Hinsehen der Käfer, der auf die Bücher zu kriecht. Das vermeintliche Stillleben erwacht zum Leben.

Damit komme ich zu einem wesentlichen Aspekt von Rolf Eschers Werk. Seit er sich der Radierung, der Zeichnung und der Lithografie zugewandt hat, das ist immerhin über 30 Jahre her, hat er ein Interesse daran, in den uns überlieferten Dingen die Lebensspuren sichtbar und das Stoffliche greifbar zu machen. Im Brüchigen entdeckt er das Schöne und im Schönen das Skurrile. Rolf Escher studiert die Dinge und Räume sorgfältigst – zu Hause im Essener Atelier und auf seinen vielen Reisen, von denen auch die hier versammelten Bilder berichten. Er setzt sich in das Cafe´ oder in die Bibliothek mit dem Skizzenbuch und hält die Eindrücke fest. Aber schon in den Skizzen und dann erst in den Studien rückt er die Dinge zurecht, dreht und wendet sie, lässt einzelnes fort, fügt anderes ein. Denn dem Zeichner, der die Atmosphäre des Raumes in sich aufsaugen will, sucht nicht das Abbild, nicht die Wiederholung der Wirklichkeit, sondern das Bild, das er erahnte, aber nicht kannte, als er dort hinkam.

„Schauplätze“ heißt ein Band mit Escher-Zeichnungen, der vor etlichen Jahren erschien. Ja, der Zeichner verwandelt die Räume, mit denen er sich auseinandersetzt, in Schauplätze. Manchmal geschieht das unmerklich, dann führt nur das Licht Regie und löst die Konturen auf und verteilt die Gewichte neu. Es passiert aber auch mehr: In dem einen Bild vervielfältigen sich die Strukturen derart, dass man glaubt, ein Lesesaal wäre vollgestopft mit Leselampen. In einem anderen Bild hat der Zeichner die in einer Bibliothek aufgestellte mit einer solchen Lebendigkeit ausgestattet, dass sie zu fleischlichem Leben fähig scheint. Und in einer ganzen Reihe von Zeichnungen und Drucken erobern Käfer und allerlei anderes Getier die Bibliotheksräume – mal als Eindringlinge, dann wieder als Wächter und schließlich als Bibliothekare.

In meinem Katalogbeitrag bin ich näher darauf eingegangen. Das will ich hier nicht wiederholen. Doch ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, wie groß die erzählerische Lust des Zeichners ist, welches dramatisches, zur Bühne drängendes Talent er besitzt, das ihn immer neue Geschichten inszenieren lässt. Rolf Escher ist angezogen von der Schönheit des Wissens, die sich in den alten in Stoff und Leder gebundenen Bänden und in den gotischen Bücherkathedralen und barocken Bibliothekspalästen offenbart. Aber im selben Moment, in dem er der Schönheit huldigt, packt ihn auch die Lust, das Ende der Ordnung zu beschwören: Die Blei- und Farbstiftzeichnung „Der Büchersturz in London“ ist ein Schlüsselbild dafür. Aus der Höhe der Kuppel fliegen Bücher herunter. Der Titel „Büchersturz“, der mich an den Prager Fenstersturz denken lässt, legt den Gedanken an einen Gewaltakt nahe. Aber darin steckt keine Endzeitstimmung, eher ein wenig Melancholie, vor allem aber Humor.

„Bücherzeiten“ heißt die Ausstellung. Wie zur Bekräftigung spielt Escher in der anfangs erwähnten Collage mit dem Prediger-Text aus dem Alten Testament „Alle Dinge haben ihre Zeit“. Die Bücher sind Zeugen ihrer Zeit. Sie überliefern uns Weltvorstellungen, die an vergangene Zeiten gebunden sind. Die Bücher sind aber auch selbst der Vergänglichkeit ausgesetzt. Sie verbrauchen sich mit der Zeit, wenn sie nicht konserviert und geschützt werden. Aber auch dann, wenn sie veraltet sind, helfen sie uns die Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zu verstehen. Zeitzeugen sind auch die Bibliotheken. An ihnen imponiert uns vor allem die Hochachtung vor dem Buch, die sich in der Großartigkeit und verschwenderischen Weitläufigkeit manifestiert.

Das Buch und die Zeit. Wo das Leben bemessen und die Zeit gemessen wird, hat der Tod auch seinen Platz. Leitmotivisch bringt das ein Selbstbildnis auf den Punkt, in dem Escher seinen Kopf zwischen zwei vollgestopften Kommoden zeigt. Beide dienen als kleine häusliche Bibliotheken. Auf und in ihnen findet man Bücher. Auf beiden steht ein großer Wecker als Symbol für die ablaufende Zeit, und in einer erkennt man Totenschädel: Das Buch des Lebens endet mit dem Tod. Zum Tod als Bibliothekar, wie er in einer Radierserie auftaucht, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Selbst eine Variante der Zeichnung zu der Bibliothek von Coimbra offenbart eine Architektur, in der Totenköpfe die Räume beherrschen.

Trotzdem sind die Bilder der Ausstellung nicht als ein Abgesang auf die Buchkultur und unser Leben zu verstehen. Ich hatte vorhin schon einmal auf Eschers Humor hingewiesen. Vor diesem Hintergrund verstehe ich auch die geradezu groteske Zeichnung „Die Einsamkeit des Bibliothekars“ , die den Kuppelsaal der Oxforder Bibliothek zeigt. Ganz klein darin, am runden Informationstisch, sitzt der Bibliothekar vor dem Computer. Er und die neue Technik wirken verloren im Vergleich zur Größe und Prächtigkeit des Saales und zur Fülle der an den Wänden stehenden Bücherregalen. Ich verstehe aber das Bild nicht als Ausdruck einer Endzeitstimmung, mit der wir vom schönen alten Buch Abschied nehmen. Ich stelle mir eher im Sinne des Erzählers Escher vor: Der Bibliothekar surft gerade im Internet und stößt auf die vorzügliche Seite, auf der diese Ausstellung digital angekündigt wird.

Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich Sie noch ein wenig auf Rolf Eschers zeichnerische Eigenarten hinweisen. Ich habe immer wieder pauschal von Zeichnungen – so als ob alle diese Arbeiten nach einem Muster entstanden wären. Doch der Eindruck täuscht. Hinter dem Sammelbegriff Zeichnung verbirgt sich eine Vielfalt von Techniken. Rolf Escher zeichnet vornehmlich mit dem Bleistift. Aber schon zwischen den Bleistiftzeichnungen werden Sie Unterschiede entdecken, wenn Sie sehen, wie in dem einen Falle nur einzelne Partien ausformuliert sind, anderes aber durch Wischspuren im Ungewissen bleibt. Daneben finden Sie Bleistift-Zeichnungen, in denen einige Formen durch Farbstifte akzentuiert werden und eine stärkere Plastizität entsteht. Dann wieder hat Escher mit dem Aquarellpinsel Flächen leicht eingefärbt und sie im Lichtdunst dem direkten Zugriff entzogen. Und schließlich hat er mit der härteren Tuschfeder gezeichnet und dem Aquarellpinsel Lichtführung und Schattenbildung überlassen.

Das sind ein paar knappe Hinweise, die Sie als Anregung verstehen mögen, um die unterschiedlichen zeichnerischen Stimmungen und die Vielfarbigkeit zu entdecken. Ich wünsche Ihnen viel Entdecker-Freude beim Rundgang.

April 2002

+

Schreibe einen Kommentar